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Neurologie-Jahrestagung in Linz: Wachsende Bedeutung der Akut-Neurologie

Neurologie-Jahrestagung in Linz: Wachsende Bedeutung der Akut-Neurologie

Ein Pressegespräch zu der 15. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie fand am 19.03.2018 statt. Schwerpunktthema war die erweiterte Therapiepallete bei Epilepsie und Neuroonkologie.


Eine Leistungsschau der modernen Neurologie und einen Überblick über aktuelle Herausforderungen des dynamischen Fachgebiets, in dem die Akutbehandlung zunehmend an Bedeutung gewinnt, bietet die 15. Jahrestagung der ÖGN in Linz.

 

Einige Kongresshighlights: In der Schlaganfalltherapie kommt es zum Paradigmenwechsel: Zwei neue Studien zeigen, dass die mechanische Thrombenentfernung bis zu 24 Stunden nach dem Ereignis erfolgreich sein kann. In der medikamentösen und chirurgischen Therapie der Epilepsie gibt es bemerkenswerte Fortschritte, die Möglichkeiten der Gehirnchirurgie werden allerdings noch zu wenig genutzt. In der Neuroonkologie ermöglichen molekulare Diagnostik und verbesserte Neuro-Bildgebung maßgeschneiderte Therapien für Patienten mit Gehirntumoren.

 

Aktuelle Fortschritte in der Schlaganfall-Behandlung, therapeutische Entwicklungen in den Bereichen Epilepsie und Gehirntumore, der steigende Bedarf an neurologischer Akutversorgung und Neuro-Intensivmedizin: Das sind einige der Themen der 15. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN), die vom 21. bis 23. März in Linz stattfindet.

Es gibt wenige Bereiche in der Medizin, in denen während der letzten beiden Jahrzehnte eine derart rasante Entwicklung stattgefunden hat wie in der Neurologie,

so Prim.a Univ.-Doz.in Dr.in Elisabeth Fertl, Präsidentin der ÖGN, Vorständin der Neurologischen Abteilung, Krankenanstalt Rudolfstiftung, Wien und Gastprofessorin der Medizinischen Universität Wien. „Die Neurologie hat sich in den letzten Jahren von einem rein diagnostischen Spezialfach in ein Akutversorgungsfach gewandelt. Das beste Beispiel dafür ist der Schlaganfall, wo wir dank vieler neuer Erkenntnisse und des in Österreich vorbildlichen Stroke-Unit-Netzwerks erhebliche Fortschritte erzielen konnten.“

 

Neurologie: Zunehmende Bedeutung als Akutfach

 

Aber auch jenseits der Schlaganfall-Akutversorgung gewinnt die Tätigkeit von Neurologen in zentralen Notaufnahmen der Spitäler zunehmend an Bedeutung. „Patienten mit akuten neurologischen Symptomen machen im deutschsprachigen Raum etwa 20 bis 30 Prozent der Patienten in den zentralen Notaufnahmen aus“, so Prim.a Fertl. „Bis zu 90 Prozent aller stationären Patienten einer neurologischen Abteilung werden ungeplant als Notfälle aufgenommen. Es gibt großen Druck zur Verkürzung der stationären Liegedauer, was bei den oft komplexen neurologischen Patienten nur schwer mit medizinischer Qualität vereinbar ist.“ Außerdem, so die Expertin, finde die Akutversorgung der Neurologie vorwiegend in Spitalsambulanzen rund um die Uhr statt, weil im niedergelassenen Bereich die Wartezeiten auf einen Facharzt-Termin oft mehrere Wochen dauern. „Somit müssen die Ressourcen der Spitäler mit diesem Trend mitwachsen, und auch die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses muss dieser Entwicklung Rechnung tragen“, betont die ÖGN-Präsidentin.

 

Zukunft der Neurointensivmedizin

 

Versorgungsrelevante Fragestellungen gibt es auch in einem anderen Teilbereich des Fachgebiets. In Österreich bestehen sieben spezialisierte Intensivstationen mit insgesamt 60 Betten, wo Patienten mit komplexen neurologischen Erkrankungen wie Status epilepticus, Meningoenzephalitis, Schädel-Hirntraumen, schweren Schlaganfällen oder schweren neuromuskulären Erkrankungen behandelt werden. Deshalb gab es seit 1994 die Zusatzausbildung „Neurointensivmedizin“. „Für eine solche Spezialisierung in der Neurologie und Neurochirurgie wird nun im Rahmen der Ärzte-Ausbildungsordnung 2015 von Spitalsträgern und der Gesundheitspolitik kein Bedarf mehr gesehen“, sagt Prim.a Fertl. „Dies scheint pekuniäre und strukturelle Hintergründe zu haben und bewirkt längerfristig das Ende der Neurointensivstationen in Österreich. Das wäre ein unwiederbringlicher Rückschritt in der Versorgungsqualität.“ 

 

Paradigmenwechsel in der Schlaganfallbehandlung

 

In der Schlaganfallbehandlung steht ein Paradigmenwechsel bevor. Mit der Thrombektomie, bei der Blutgerinnsel im Gehirn mechanisch entfernt werden, gibt es seit einigen Jahren die Möglichkeit, auch größere Gefäßverschlüsse zu entfernen. „Bisher galt dabei die Maxime, dass eine erfolgreiche Behandlung nur in einem Zeitfenster von sechs bis acht Stunden nach dem Schlaganfall möglich sei“, so Prim.a Fertl. „Gleich zwei Studien belegen nun, dass eine solche Behandlung auch bis zu 24 Stunden nach dem Ereignis erfolgreich sein kann. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass wir die bildgebende Diagnostik erweitern. Wenn wir diese neuen Chancen für unsere Patientinnen und Patienten nutzen wollen, müssen wir hier rechtzeitig für entsprechende Rahmenbedingungen sorgen.“

 

Schwerpunkt Epilepsie: 60.000 Menschen in Österreich betroffen

 

Ein Schwerpunktthema des Kongresses ist die Epilepsie, die häufig noch zu Unrecht als seltene Erkrankung angesehen wird. Tatsächlich aber sind in Österreich 0,8 Prozent der Gesamtbevölkerung betroffen, also mehr als 60.000 Menschen. Alle zwei Stunden erkrankt in Österreich ein Mensch an Epilepsie. „In diesem Teilbereich der Neurologie tut sich eine zunehmende Kluft zwischen Patientenbedürfnissen und medizinischen Möglichkeiten auf der einen Seite und der Behandlungsrealität auf“, so Kongresspräsident Prim. Priv.-Doz. Dr. Tim von Oertzen, Vorstand der Klinik für Neurologie 1, Neuromed Campus, Kepler Universitätsklinikum Linz. 

 

Dank der Errungenschaften der letzten Jahre kann die Neurologie der überwiegenden Mehrheit der Menschen mit Epilepsie wirkungsvoll helfen.

In den letzten zwei Jahrzehnten wurden zahlreiche Medikamente eingeführt, mit denen wir bei sieben von zehn Betroffenen für vollständige Anfallsfreiheit sorgen können, und das mittlerweile in den meisten Fällen ohne gravierende Nebenwirkungen,

 

so Prim. von Oertzen. „Allerdings wissen wir nicht, ob und wie weit diese neuen Möglichkeiten auch bei den Betroffenen ankommen.“

 

Möglichkeiten der Gehirnchirurgie noch zu wenig genutzt

 

Rund ein Drittel aller Betroffenen sprechen auf die verfügbaren Epilepsie-Medikamente nicht an. Prim. von Oertzen: „Ein Teil dieser Patienten kann heute mit immer besserer Langzeit-Effektivität operiert werden.“ Wie eine im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie mit 9.523 Patientinnen und Patienten zeigt, sind die Ergebnisse überragend: 58 Prozent der Erwachsenen waren ein Jahr nach einem solchen Eingriff vollständig anfallsfrei. Wenn der Epilepsie ein gutartiger Tumor zugrunde lag, waren es sogar 63,5 Prozent. Bei Kindern lag die Erfolgsrate bei 65 Prozent.

„Leider wird diese Möglichkeit noch viel zu wenig genutzt“, so Prim. von Oertzen. „Und wenn, dann häufig viel zu spät: Wie die Studie zeigt auch unsere tägliche Praxis, dass die Betroffenen durchschnittlich erst 16 Jahre nach der Erstdiagnose zur Operation kommen. Dabei müsste in jedem dieser Fälle nach spätestens drei bis fünf Jahren erkennbar gewesen sein, dass es sich um Patienten handelt, die auf Medikamente nicht ansprechen.“

 

Neuroonkologie: Molekulare Diagnostik ermöglicht treffsichere Therapie und verlängert Überlebenszeit

Die Neuroonkologie gehört zweifellos zu den dynamischsten Bereichen in der Neurologie,

berichtet Kongresssekretärin OÄ Dr. in Judith Wagner, Klinik für Neurologie 1, Neuromed Campus, Kepler Universitätsklinikum Linz. „Das lässt sich schon daran erkennen, dass die WHO vor kurzem eine neue Klassifikation für Hirntumore erstellt hat.“ Während die Tumore bisher aufgrund rein histologischer Diagnosen in vier Grade – von I wie gutartig bis IV wie bösartig – eingeteilt wurden, berücksichtigt die neue Klassifikation nun zusätzlich auch molekulargenetische und immunhistochemische Eigenschaften zur Differenzierung der unterschiedlichen Tumorentitäten.

 

Möglich wurde das durch die bemerkenswerten Fortschritte der molekularen Diagnostik. OÄ Wagner: „In den letzten Jahren ist es gelungen, eine ganze Reihe von Biomarkern zu identifizieren, die uns nun ein weitaus differenzierteres Bild der verschiedenen Tumorarten liefern. Das betrifft sowohl diagnostische Biomarker zur Präzisierung der Tumorklassifikation wie auch prognostische, die uns eine bessere individuelle Prognose ermöglichen. Das ermöglicht uns, die Therapiekonzepte besser auf den einzelnen Patienten zuzuschneiden und die jeweils beste Kombination aus Operation, Chemotherapie und Bestrahlung zu finden.“

 

Verbessertes Neuroimaging erhöht Diagnosegenauigkeit

 

Ähnlich beeindruckende Fortschritte gibt es auch in der bildgebenden Diagnostik. Zwar ist die Magnetresonanztomografie dabei immer noch das zentrale Instrument, um Gehirntumore zu identifizieren. Allerdings lässt sich Tumorgewebe mit einer MRT in vielen Fällen nur sehr ungenau von anderen, unspezifischen Gewebsveränderungen unterscheiden.

 

„Die Positronenemissionstomografie mit radioaktiv markierten Aminosäuren, kurz FET-PET, erlaubt uns heute, bestimmte Stoffwechselprozesse im Gehirn sehr genau zu beobachten“, so OÄ Wagner. „Damit lässt sich hochaktives Tumor- deutlich von inaktivem Narben-Gewebe differenzieren. Diese Untersuchungen sind aufwendig und immer noch teuer, machen sich aber bezahlt.“ Das verbesserte Neuoimaging bringt nicht nur mehr Treffsicherheit bei der Grunddiagnose, sondern auch wesentliche Zusatzinformationen, die bei der Planung einer Biopsie oder eines neurochirurgischen Eingriffs deutliche Verbesserungen bringen. Dazu kommt, dass diese Methode auch die Therapie besser beurteilbar macht. Eine Studie bei Patienten mit Hirntumoren hat gezeigt, dass FET-PET bereits in einem sehr frühen Behandlungsstadium zeigen kann, ob Patienten auf eine Chemo- oder Strahlentherapie ansprechen oder nicht.

 

Weniger neurologische Grundausbildung für Allgemeinmediziner

 

Besorgt sind die Experten, was die aktuelle Ausbildung von Allgemeinmedizinern betrifft. Mit der 2015 in Kraft getretenen Ärzteausbildungsordnung wurde die Neurologie in der Ausbildung zum Allgemeinmediziner als Pflichtfach abgeschafft, sie kann nur mehr als Wahlfach gewählt werden. „Wir haben mehrfach vor gefährlichen Wissenslücken der zukünftigen Ärzteschaft gewarnt, und sehen unsere Befürchtungen leider bestätigt“ so ÖGN-Präsidentin Fertl. „Die Erfahrungen zeigen, dass angehende Allgemeinmediziner tatsächlich kaum mit der Neurologie in Berührung kommen. Darauf müssen wir dringend reagieren. Wir brauchen eine Novelle zur Ausbildungsordnung, die sicherstellt, dass künftig wieder jeder Allgemeinmediziner neurologische Erfahrungen und Fertigkeiten vermittelt bekommt. Schließlich leiden bereits heute mehr Menschen an einer neurologischen Erkrankung als an Atemwegserkrankungen, gastrointestinalen Störungen oder Krebs.“

Quelle: Pressemeldung B&K – Bettschart&Kofler Kommunikationsberatung / Fotocredit: ©B&K / Nicholas Bettschart

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