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Gesundes Altern aus Sicht der Philosophie

Gesundes Altern aus Sicht der Philosophie

Erfahren Sie welche Faktoren aus philosophischer Sicht, außer der rein körperlichen Gesundheit, entscheidend sind für ein HEALTHY AGING


Gesundes Altern aus Sicht der Philosophie

 

CredoWeb: Welche Faktoren, außer der rein körperlichen Gesundheit, sind entscheidend für ein gesundes Altern aus philosophischer Sicht?

 

Priv.-Doz. Dr. Sebastian Knell: Fraglos umfasst der Begriff der Gesundheit mehr als die rein körperliche Funktionsfähigkeit.

Eine ebenso wichtige Dimension ist die psychische und die mentale Gesundheit. Vor allem letztere steht beim gesunden Altern im Zentrum des Interesses.

Dies heißt, dass mentale Fähigkeiten wie das Gedächtnis und die allgemeine Auffassungsgabe möglichst lange trainiert werden sollten.

 

 

Als eine zusätzliche Dimension der mentalen Gesundheit lassen sich aber auch ein gewisses Maß an Neugierde sowie das Interesse und die Anteilnahme an der Welt betrachten.

 

Aus philosophischer Sicht ist diese Dimension deshalb sehr relevant, weil wir ein langes Leben nicht zuletzt dank unserer geistigen Antriebskräfte als lebenswert erfahren, auch wenn sich dieser Aspekt in medizinischen Kategorien nicht so leicht definieren lässt.

 

 

 

Ohne fortgesetzte Neugierde und Anteilnahme kann unser Dasein existenziell veröden, selbst wenn wir uns ansonsten guter körperlicher und auch kognitiver Gesundheit erfreuen.

 

CredoWeb: Welche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hätte es, wenn Menschen in Zukunft 200-300 Jahre alt werden würden, was aus medizinischer Sicht in Zukunft nicht ganz unwirklich scheint?

 

Priv.-Doz. Dr. Sebastian Knell: In der näheren Zukunft sind solche Szenarien zwar vermutlich noch nicht zu erwarten, aber zwei, drei gesunde Jahrzehnte könnten vielleicht dennoch schon in absehbarer Zeit hinzugewonnen werden.

Bereits dann würden mehr Generationen gleichzeitig zusammenleben als bisher, woraus sich unter anderem die Notwendigkeit längerer Phasen der Erwerbstätigkeit ergeben würde, um die Tragfähigkeit der Sozialversicherungssysteme weiterhin zu gewährleisten.

 

Allerdings müsste das gemeinsame aktive Erwerbsleben mehrerer Generationen dabei zugleich so organisiert werden, dass soziale Aufstiegschancen für junge Menschen nicht langfristig durch vitale Altvordere blockiert werden.

 

 

Um dieses Ziel zu erreichen, ist vermutlich in Zukunft sehr viel institutionelle Fantasie gefragt – man könnte hier etwa an auf Alterskohorten bezogene Quotenregelungen denken oder auch an Zeitbegrenzungen für Führungspositionen, etwa in Analogie zu limitierten Mandatslaufzeiten in der Politik.

 

Die genannten Erfordernisse ergäben sich allerdings nur so lange, wie nicht durch die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung der Produktionsprozesse zukünftig die Erwerbsarbeit insgesamt zu einem gesellschaftlich knapperen Gut wird, das dann womöglich nach ganz anderen Kriterien neu verteilt werden müsste.

 

Ein Bereich, in dem die Gesellschaft sich auf jeden Fall auf Umverteilungen größeren Stils einstellen sollte, ist die solidarische Finanzierung eines gerechten Zugangs zu lebensverlängernden Behandlungen, vor allem dann, wenn diese in einer ersten Phase ihrer Entwicklung sehr teuer werden sollten.

 

Eine weitere gesamtgesellschaftliche und auch politische Herausforderung besteht darin, dass sich in einer Welt gesteigerter Langlebigkeit im globalen Maßstab betrachtet das demographische Problem des Bevölkerungswachstums, das uns bereits heute auf den Nägeln brennt, weiter verschärfen dürfte.

 

 

Irgendwann könnte sich daher die schwierige Aufgabe stellen, die individuellen Glückschancen, die sich mit einem größeren Zeitreichtum verbinden, gegenüber Freiheitsverlusten innerhalb der Gesellschaft abzuwägen, die mit staatlich gelenkten Geburtenkontrollen unausweichlich einhergingen.

Leider sind unsere politischen Systeme auf all diese Herausforderungen nicht sonderlich gut vorbereitet, weil heutzutage nicht nur der Tod aus unserem Leben verdrängt wird, sondern ebenso – und paradoxerweise – auch der mögliche Aufschub des Todes, den zukünftige Fortschritte der Biomedizin in Aussicht stellen.

 

CredoWeb: Wie sollte/könnte man in diesem Fall die Zeit, welche man dazugewinnen würde, bestmöglich nutzen?

 

Priv.-Doz. Dr. Sebastian Knell: Es gibt hier unterschiedliche Möglichkeiten. Man kann sich auf der einen Seite ganz einfach weiterhin lohnender Lebensinhalte erfreuen – also all der Dinge, die man genießt, die man wertschätzt oder die Gegenstand der eigenen authentischen und aufgeklärten Wünsche sind. 

Wenn die mentalen Voraussetzungen fortgesetzter Neugierde und Anteilnahme gegeben sind, kann es für das Wohlergehen aber auf der anderen Seite auch in besonderem Maße förderlich sein, seine unterschiedlichen Fähigkeiten und Potenziale in breiterer Form zur Entfaltung zu bringen:

also zum Beispiel im Anschluss an die berufliche Karriere und die Phase der Kindererziehung noch eine künstlerisch-kreative Betätigung auszuprobieren, eine neue Sportart zu kultivieren oder sich sozial oder politisch zu engagieren.

 

 

Die meisten Menschen sind auf die eine oder andere Weise Multitalente – dies liegt in der polymorphen Natur unserer kulturellen Formung begründet. Doch heutige Lebenswege lassen oftmals nicht genügend zeitlichen Spielraum, um seine unterschiedlichen physischen, kognitiven, emotionalen und sozialen Anlagen auch vollumfänglich auszuleben.

 

Wird in einem verlängerten Leben hingegen die Bereitschaft gepflegt, sich lebenslang weiterzubilden und hinzuzulernen, ergeben sich aus der breiteren Verwirklichung der eigenen Potenziale durchaus zusätzliche Glückschancen.  Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass die Gesellschaft diese Möglichkeit lebenslanger Bildungsprozesse auch unterstützt – institutionell wie finanziell.

 

 

Auf der anderen Seite ist der normative Anspruch einer optimalen Nutzung hinzugewonnener Lebenszeit, der in der Formulierung der Fragestellung zum Ausdruck kommt, aber auch ein Stück weit kritisch zu hinterfragen.

 

Aus diesem Anspruch sollte sich kein sozialer Zwang zur fortgesetzten Selbstoptimierung ergeben, denn dies würde den Einzelnen eher auf eine neue Weise unfrei machen.

Wünschenswert wäre es stattdessen, den größeren Zeitreichtum unter anderem auch für die Kultivierung echter Muße zu nutzen, die nicht etwa im Nichtstun besteht, sondern die spielerische Entwicklung und Verfolgung von Interessen beinhaltet. Damit könnten dann experimentellere Formen der Lebensführung Hand in Hand gehen und eine flexiblere, in einem gewissen Sinne auch anarchischere Form der sozialen Identität.

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