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'BiTE'-Technologie zur Behandlung von akuter lymphatischer Leukämie

'BiTE'-Technologie zur Behandlung von akuter lymphatischer Leukämie

Eine neue Generation von Immuntherapien könnte die Behandlung verschiedenster Krebsformen wesentlich verändern: bispezifische Antikörperkonstrukte, welche die wirksamsten Abwehrzellen der Patienten - die T-Lymphozyten - in Kontakt mit bösartigen Zellen bringen und so die Abwehrreaktion aktivieren, hieß es jetzt bei einem Journalistenseminar des US-Biotech-Großkonzerns Amgen in München.

Wir entwickeln 13 verschiedene Therapiekonzepte gegen Krebs. Wir haben 33 Forschungsprogramme in der Klinik. Mit Blinatumomab haben wir ein erstes bispezifisches Antikörperkonstrukt für die Behandlung für die akute lymphatische Leukämie (ALL) mit Rückfall oder Therapieversagen und für die Behandlung von Patienten mit ALL und minimaler Resterkrankung zugelassen bekommen. Wir entwickeln diese 'BiTE'-Technologie aber auch zur Behandlung von Lungenkarzinomen, akuter myeloischer Leukämie (AML), Glioblastomen, Prostatakrebs und anderen Krebsarten,

sagte Isma Benattia, Vizechefin Medizin für Europa von Amgen.

T-Zellen und bösartige Zellen zusammenbringen

Das Prinzip wurde ehemals von dem deutschen Immunologen Peter Kufer Mitte der 1990er-Jahre an der Universität München umgesetzt. Er und sein Team schafften es, Antikörperkonstrukte zu produzieren, welche zwei Bindungsstellen aufweisen: eine "Gabel" für das Andocken an die für Krebszellen gefährlichsten Abwehrzellen, die T-Zellen. An ihrem Rezeptor zum Auffinden und Vernichten von bösartigen Zellen tragen sie das Oberflächenmolekül CD3. Daran bindet eine Struktur des Antikörperkonstrukts. Die zweite Bindungsstelle koppelt an das CD19-Oberflächenmerkmal von bösartigen weißen Blutkörperchen aus der B-Zell-Reihe an. Mehr als 90 Prozent der B-Zell-Linie, aus der auch die verschiedene Leukämieformen entstehen, weisen dieses Protein auf.

Blinatumomab bringt T-Zellen und bösartige Zellen zusammen. Die T-Zellen perforieren die bösartigen Zellen, zerstören sie bzw. leiten den programmierten Zelltod ein. Außerdem kommt es zur Vermehrung der T-Abwehrzellen,

sagte die Expertin. Im Rahmen der Aktivierung der T-Lymphozyten gegen die bösartigen Zellen kommt es auch zu einer Entzündungsreaktion mit der Freisetzung von Immunbotenstoffen. "Die T-Lymphozyten mit Blinatumomab als Verstärker sind echte 'Serienmörder', sie führen bei einer Krebszelle nach der anderen den programmierten Zelltod herbei."

Große Investitionen

Derzeit investiert Amgen als weltgrößter Biotech-Konzern einen erheblichen Teil seiner Forschungsausgaben in diese Technologie. Kufer hatte mit Partnern nach dem wissenschaftlichen Durchbruch zunächst das Spin-Off-Unternehmen Micromet gegründet. Amgen übernahm es schließlich. Seither existiert in München ein großes Amgen-Forschungszentrum mit rund 200 Beschäftigten, das sich vorzüglich mit diesen Projekten beschäftigt.

 

Die erste Zulassung des "BiTE"-Konstrukts Blinatumomab gab es vor einigen Jahren in den USA und in Europa für Patienten mit einem Rückfall oder bei einer sonst nicht behandelbaren Form einer akuten lymphatischen Leukämie (sogenannter Philadelphia-Chromosom-negativer, CD19-positiver akute lymphoblastische Leukämie durch B-Vorläuferzellen). Der nächste Schritt erfolgte Anfang dieses Jahres. Da wurde Blinatumomab nach den USA auch in der EU für die Behandlung von erwachsenen Patienten mit der bereits genannten Form akuter lymphoblastischer Leukämie in erster oder zweiter kompletter Remission der Erkrankung, aber mit im Labor nachgewiesenen minimalen Restzeichen der Leukämie (mindestens 0,1 Prozent der weißen Blutkörperchen "bösartig") zugelassen.

Wesentlich wirksamer

Entwickler Peter Kufer erläuterte bei dem Amgen-Journalistenseminar die bisher größten Erfolge mit der neuen Therapieform. Sie wird als Dauerinfusion über vier Wochen verabreicht.

 

"Im Vergleich zu herkömmlichen monoklonalen Antikörpern, welche Natural Killer Cells (NK-Zellen; Anm.), Monozyten oder Makrophagen (Freßzellen; Anm.) aktivieren, sind die von unseren 'BiTE'-Konstrukten aktivierten T-Zellen um ein Vielfaches wirksamer", sagte der Immunologe. Das zeige sich auch in einer um etliche Zehner-Potenzen geringeren notwendigen Dosierung als bei den traditionellen monoklonalen Antikörpern. Normale monoklonale Antikörper werden in Milligramm-Dosen verabreicht, die "BiTEs" liegen mit Mikrogrammdosierungen weit darunter.

 

In Wirksamkeitsstudien der Phase III an Patienten zeigten sich, dass erstmals ein Antikörper-Konstrukt als Biotech-Medikament allein wirksamer als Chemotherapeutika sein kann. In einer Anfang März 2017 im New England Journal of Medicine veröffentlichten Studie wurde bei

405 Patienten mit therapieresistenter ALL oder nach mehreren Rückfällen im Vergleich zu einer Chemotherapie eine Verlängerung der mittleren Überlebenszeit von vier auf 7,7 Monate registriert. Nach drei Monaten waren 34 Prozent der mit Blinatumomab behandelten ALL-Kranken frei von Krankheitszeichen, hingegen nur 16 Prozent in der Chemotherapiegruppe. Die Patienten waren Schwerstkranke.

Blinatumomab soll Rückfälle verhindern

An sich ist die akute lymphatische Leukämie (ALL; Anm.) zunächst mit einer Chemotherapie gut behandelbar. Man bekommt 90 Prozent der Patienten mit Chemotherapie in eine Remission.

Das heißt, dass im Mikroskop weniger als fünf Prozent der (weißen) Blutkörperchen Leukämiezellen sind. Doch es bleiben Patienten übrig, bei denen noch eine von hundert dieser Zellen oder eine von 10.000 bösartig sind. 50 Prozent dieser Erkrankten erleiden später einen Rückfall", sagte Kufer. Das sind Patienten mit einem ursprünglich "Minimal Residual Disease" (minimaler Krankheitsrest; Anm.).

 

Hier setzt die Vorwärtsstrategie mit den neuen Antikörperkonstrukten ein. Man will das erneute "Auswachsen" der nach Chemotherapie übrig gebliebenen "Saat" mit Blinatumomab verhindern. Auch hier verlief eine Wirksamkeitsstudie mit 110 Patienten, von denen zwei Drittel eine Behandlung mit dem Medikament und eine nachfolgende Stammzelltherapie im Vergleich zum dritten Drittel mit "BiTE"-Therapie ohne nachfolgende Knochenmarktransplantation erhielten, positiv. "50 Prozent der Patienten mit Blinatumomab-Therapie und Stammzelltransplantation waren nach fünf Jahren noch in Remission. In der Vergleichsgruppe waren es auch noch 25 Prozent."

"Therapie von der Stange"

Derzeit wird viel von der sogenannten CAR-T-Zelltherapie gesprochen. Dabei werden Patienten individuell T-Zellen abgenommen und genetisch so verändert und vermehrt, dass sie nach Re-Infusion im Rahmen einer Art Gentherapie bösartige Zellen vernichten sollen. Das Prozedere ist hoch kompliziert, weil es sich um eine individuelle Therapie handelt. Außerdem ist die Therapieform bezüglich ihrer potenziell schweren Nebenwirkungen schwer steuerbar, die Langzeitwirkungen sind noch nicht bekannt. Die "BiTE"-Technologie ist hingegen eindeutig eine "Therapie von der Stange", die Patienten sofort via Spital und Krankenhausapotheke erhalten können, wenn sie dafür infrage kommen. Die extrem kurze Halbwertszeit des Antikörperkonstrukts von wenigen Stunden fördert bei auftauchenden Komplikationen die Steuerung der Therapie. Durch Verlängerung der Halbwertszeit will man allerdings in Zukunft die Notwendigkeit einer Dauerinfusion durch eine einfachere Verabreichungsform möglichst ersetzen.

 

Beim Jahreskongress der amerikanischen Onkologengesellschaft (ASCO) vor wenigen Wochen wurden bereits neue Daten zu anderen "BiTE"-Entwicklungen präsentiert. So zeigten sich in einer frühen Phase-I-Studie bei Patienten mit Multiplem Myelom gute Ansprechraten von mehr als 30 Prozent. In einer frühen Phase-1-Studie zur Dosisfindung zum Beweis der Machbarkeit des Konzepts bei Patienten mit fortgeschrittener Prostatakarzinomerkrankung wurden ebenfalls Erfolge erzielt. Bei manchen Patienten kommt es zu einem extrem starken Rückgang von Knochenmetastasen. Bei dem in Entwicklung stehenden "BiTE"-Produkt gegen das Prostatakarzinom reagiert das Antikörperkonstrukt auf das Prostata-spezifische Membranantigen (PSMA) und auf den T-Zellrezeptor (CD3). Beim kleinzelligen Lungenkarzinom (SCLC) visiert man die Tumorzelloberflächenstruktur DLL3 an. Ein in Entwicklung stehendes "BiTE"-Konstrukt gegen das Glioblastom (Gehirntumor) wiederum verbindet wiederum T-Lymphozyten mit einer Variante des Tumorzellmarkers EGFR.

Forscher zeigten Durchhaltevermögen

Der Weg zur "BiTE"-Therapie war lang. "Die Grundidee, dass man Antikörper, die an einem Arm am 'roten Schalter' der T-Zellen binden und mit dem anderen Arm an Krebszellen geht zurück auf die Mitte der 1980er-Jahre. Viele Gruppen wollten daraus Medikamente machen. Das erwies sich aber definitiv als sehr schwierig. Man hat zum Beispiel versucht, zwei Antikörper herzustellen und dann chemisch zu koppeln. Das schlug, wie viele andere Versuche, fehl", sagte Kufer.

 

Fazit war, wie auch andere Amgen-Mitarbeiter in München erklärten: Die meisten Forschergruppen gaben die Idee schließlich auf. Kufer und sein Team - ursprünglich an der Universität in München tätig - machten weiter. "Es gelang uns, die bispezifischen Antikörperkonstrukte in einer einzigen Eiweißkette zu produzieren.

 

Andere Wissenschaftergruppen hatten ihre Konstrukte in (genetisch veränderten; Anm.) E. coli-Bakterien exprimiert. Wir verwendeten und verwenden Säugetierzellen (genetisch veränderte Ovarialzellen ursprünglich von chinesischen Hamstern; CHO-Zellen), weil sich die Proteine ja auch richtig falten müssen", sagte der Wissenschafter.

Der Durchbruch kam um 1994.

Etwa zwei Jahre später feierte man die nächste Stufe in der Entwicklung. "Da konnten wir in Laborversuchen zeigen, dass solche 'BiTE'-Konstrukte als eigenständige Substanz im Pikogramm-Bereich (Billionstel Gramm; Anm.) eine Wirkung auf bösartige Zellen haben", sagte Kufer.

Erste Studie und Publikation

Über das schließlich etablierte Herstellungsverfahren konnte genug Material für erste Studien an Menschen produziert werden. Wieder gab es Schwierigkeiten. Um die Jahrtausendwende dachte man an eine Kurzzeit-Infusion von "BiTE"-Antikörpern beim Non-Hodgkin-Lymphom. "Das war aber nicht lange genug. Wir haben überlegt, was brauchen T-Zellen, um Krebszellen anzugreifen. Wir kamen auf höhere Dosierungen und auf die kontinuierliche Infusion (ein Zyklus mit Dauerinfusion dauert derzeit vier Wochen; Anm.). Ohne das wären wir nirgendwo hingekommen", betonte der Wissenschafter.

 

"2008 hatten wir dann eine erste Publikation in 'Science'. Das war ein weiterer Durchbruch", erklärte Kufer. Damals berichteten die Wissenschafter erstmals über die Regression von Tumoren bei Patienten unter Verwendung des neuen Therapieprinzips.

 

Schließlich konnten die Wissenschafter zeigen, dass ihre "BiTE"-Konstrukte wie das für die Erkrankung bereits zugelassene Blinatumomab bei akuter lymphatischer Leukämie (ALL) sehr schnell bösartige weiße Blutkörperchen auch im Knochenmark angriffen. "Das erfolgt besonders rasch und war sehr eindrucksvoll ", sagte der Wissenschafter. Damit war die Entwicklung von Blinatumomab zu einer Therapie gegen die ALL frei. "Die ALL ist nämlich eine Knochenmark-basierte Erkrankung." Pro Jahr erkranken in Europa 1,5 Menschen pro 100.000 Personen an einer ALL. Das sind in der Folge rund 100.000 Todesopfer pro Jahr. Bei Kindern ist diese Form von Blutkrebs die häufigste Krebserkrankung.

"Brille" für "fehlsichtige" T-Lymphozyten

"Mit unseren bispezifischen Antikörperkonstrukten setzen wir den sonst 'fehlsichtigen' (inaktiven; Anm.) T-Lymphozyten als Abwehrzellen sozusagen ihre 'Brille' wieder auf. Sie werden aktiv", sagte Kufer zu dem Wirkprinzip.

 

Machbar werden aber könnte mit solchen Medikamenten auch eine völlig neue Strategie bei Krebserkrankungen. "Es ist klar, dass man mit neuen Therapien im Vergleich zu vorhandenen Behandlungsformen zunächst einmal Patienten im fortgeschrittenen Stadium einer Krebserkrankung behandelt. Aber wir haben erstmals gezeigt, dass man mit Blinatumomab bei Patienten mit minimaler Resterkrankung einer ALL sonst zu einem hohen Prozentsatz erfolgende Rückfälle verhindern kann. Wir bekommen bei Patienten auch die Resterkrankung weg", sagte Kufer. Das würde bedeuten, dass sich diese "BiTES" - und die will man für viele verschiedene Krebsformen entwickeln - auch zur frühzeitigen Bekämpfung vom Mikrometastasen einsetzen könnte. Trotz anfänglicher Therapieerfolge können aus ihnen auch noch nach vielen Jahren wieder Tumore entstehen.

Quelle: APA

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