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Anpassungsstörungen im Alltag & in Krisensituationen

Anpassungsstörungen im Alltag & in Krisensituationen

Ein Interview mit Dr. med. Sera Wolf, Fachärztin für Psychiatrie & Psychotherapeutische Medizin & Neurologie aus Graz

 

CredoWeb: Was sind Anpassungsstörungen?


Dr. med. Sera Wolf:


Anpassungsstörungen sind Störungen, die im psychiatrischen Diagnosenkanon im Kapitel F 43 festgeschrieben sind.

Dieses Kapitel der internationalen Klassifikation beinhaltet Krankheitsbilder, welche alle ganz deutlich in einem Außenereignis das Auslöseargens für die Entwicklung von Krankheitssymptomen sehen.
Die krankhafte Reaktionsbildung kann sich in Zeit und Qualität unterscheiden.

 

CredoWeb: Warum ist es für einige Menschen schwieriger, sich an neue Umstände oder Lebensereignisse anzupassen?

 

Dr. med. Sera Wolf: Das liegt wohl einerseits an der ganz grundsätzlichen "Ausstattung" eines Menschen - wie

 

  • Temperament,
  • allgemeiner Aktivitätslevel und
  • Phantasiebegabung,

 

die immer den Aktionsradius und die Spannkraft allgemein im Leben mitformen.

 

 

Andererseits ist sicher die individuelle biographische BEZIEHUNGS(LERN)GESCHICHTE von Anfang an sehr prägend für die Bearbeitung großer Lebensereignisse.

 

Eine Beziehungs(lern)geschichte mit Schutzräumen (= sichere Bindungsorte) UND Einladungen sich neugierig in die Welt hinein auszustrecken wird einen Menschen mit maximaler Wendigkeit hervorbringen.

 

CredoWeb: Wo ist die Grenze zwischen einer normalen und einer krankhaften Reaktion?

Dr. med. Sera Wolf:

Die Grenzen sind FLIESSEND - wie immer in der Medizin, wie immer bei lebendigen Prozessen.

 


Das Krankhafte definiert sich nicht durch eine klare Grenzziehung vom Gesunden, sondern durch einen wachsenden Leidensdruck und das Kleinwerden der Gestaltungswelt - beides ist eine Einengung und bringt Menschen in eine Isolation.

 

 

Ein Nichtkönnen, ein Nichtspüren, wenig Perspektive für andere "Wege" sind das Resultat.

 

Im sozialen Interagieren kommt es dadurch auch zu Problemen (zB bei Rückzug). 

Diese sekundäre Symptomebene erhöht dann den Druck, der wiederum nur dysfunktional beantwortet werden kann - die Spiralisierung in die Tiefe ist eröffnet.

 

 

CredoWeb: Kann man diese Fähigkeit, sich an unangenehme Situationen anzupassen, erlernen oder trainieren?


Dr. med. Sera Wolf: Wie so oft im Leben kann man auch dabei eine Chance B nutzen - im Sinne eines Nachreifens.

Wichtig dabei ist, dass man klein beginnt. 

 

Eine ärgerliche Situation, eine mittelgradige Schieflage (zB ein Streit oder eine erste Androhung von etwas Unangenehmen) werden innerlich mit voller emotionaler Qualität GEHALTEN.

 

Dieses Halten von einem dunklen Inhalt formt das Haltegefäß in uns mit.

 

 

Das Haltegefäß bekommt eine festere Wand, wird "hitzestabil", reißt nicht so leicht ein und vergrößert sich. In der Fachsprache heißt dieser Vorgang CONTAINING oder Zunahme des Containments (formuliert von W. Bion).

 

CredoWeb: Wie beurteilen Sie die jetzige Situation mit COVID-19 und alle Einschränkungen? Gibt es viele Menschen, die an Anpassungsstörungen leiden? Wie äußern sich ihre Ängste?

 

Dr. med. Sera Wolf:

Die Lage ist ernst. Am ehesten gibt es noch im medizinischen Bereich Klarheit über die Situation. Das Vorgehen - quasi die BEHANDLUNG - wird definiert, von fast allen akzeptiert und umgesetzt. Die Behandlung wird greifen, wird erfolgreich sein. SICHER. Der materielle Schaden ist immens groß und dramatisch - doch auch dabei gibt es nationale und internationale Maßnahmen zur Linderung.


Offen ist aus meiner Sicht der Umgang mit den NEBENWIRKUNGEN der Behandlung - mit den Effekten im emotionalen und sozialen Feld durch die Isolation und dem (Teil)zusammenbruch. Dabei gibt es - bis auf die Gewaltprävention - nur viel Unspezifisches, viele vor Ort-Initiativen, viele Einzelratschläge.

 

So ist es durchaus möglich, dass im Rückblick eine spezifische Covid-19 Anpassungsstörung zu beschreiben sein wird.

 

CredoWeb: TIPPS: Was können wir alle machen, um diese Herausforderung ohne depressive Gedanken durchzustehen?


Dr. med. Sera Wolf: Ich möchte das Buch MOMO von Michael Ende nennen, in dem Beppo, der Straßenkehrer, sich an Momo wendet und klagt, dass er mit der Länge der zu kehrenden Straße überfordert ist.


Momos kluge Antwort: „SCHRITT, ATEMZUG, BESENSTRICH - das ist die Formel, eine immens lange Strecke übersichtlich und bewältigbar zu gestalten. AUCH FÜR UNS HEUTE.

 

Interview: Christina Neumayer/CredoWeb

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