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Tabuthema: Blasenentleerungsstörungen der Frau

Tabuthema: Blasenentleerungsstörungen der Frau


Ein Experteninterview mit Primarius DDr. Burghard Abendstein aus Tirol. Prim. DDr. Abendstein ist Facharzt für Gynäkologie, Geburtshilfe & Chirurgie und leitet die Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe am LKH Feldkirch.

 

CredoWeb: Welche Arten von Blasenentleerungsstörungen gibt es und was sind die häufigsten Ursachen?

 

Prim. DDr. Burghard Abendstein: Wir sprechen grundsätzlich von zwei verschiedenen Blasenentleerungsstörungen.


Entweder man verliert unfreiwillig Harn oder man kann die Blase nicht vollständig entleeren.


Das sind zwei gegenteilige Probleme bzw. zwei gegenteilige Symptome.

 


Beim unfreiwilligen Harnverlust unterscheiden wir zwischen

 

  • der Belastungsinkontinenz,
  • der Dranginkontinenz,
  • der Überlaufinkontinenz und der
  • neurogenen Blasenentleerungsstörung.

 

Bei der unvollständigen Blasenentleerung verbleibt Restharn in der Blase.

 

Die Ursache für diese unterschiedlichsten Symptome sind mannigfaltig, aber wenn man Hauptursachen herausfiltern möchte, dann landet man bei einer Bindegewebsschwäche, die eine Frau im Laufe ihres Lebens akquiriert.


Einerseits kann das Bindegewebe im Laufe des Lebens durch verschiedene Ursachen einen Schaden nehmen (zB durch eine Spontangeburt reißen) und dieses überdehnte oder gerissene Bindegewebe kann die Organe, die für die Kontinenz von Bedeutung sind, nicht mehr richtig stützen.
Das Bindegewebe hat sowohl für die Harnröhre als auch für die Blase, die Gebärmutter und die Scheidenwände eine Stützfunktion.

 

 

Diese Bindegewebsdefekte bleiben meistens bis zum Eintritt in den Wechsel kompensiert, weil die Geschlechtshormone der Frau, insbesondere das Östrogen, das Bindegewebe noch lange kompetent haltet. Man weiß, dass das Östrogen die Anzahl der Muskelfasern im Bindegewebe, die Anzahl der Nervenfasern, die Anzahl der Fibroblasten, also der Bindegewebszellen beeinflusst.

Diese Untersuchungen, wo man genau sieht, dass das Bindegewebe am Beckenboden einer Frau vor dem Wechsel kräftiger und dicker ist als das Bindegewebe einer Frau im Klimakterium, gibt es schon lange.
Deswegen merken Frauen bis zum Eintritt in den Wechsel oft nur ganz wenig oder gar nichts von einer Bindegewebsschwäche.
Wenn die Frauen dann 45, 50, 60 Jahre alt werden, macht sich dieser Bindegewebsdefekt erst richtig bemerkbar. Natürlich kennen wir auch Frauen, die schon in einem relativ jungem Alter, sprich ab 25, solche Beschwerden aufzeigen. Meine jüngste Inkontinenzpatientin war 27 Jahre jung!


Eine Patientin mit einer Blasenentleerungsstörung ist aber im Normalfall 50+.

 

Für die Entstehung der Belastungsinkontinenz spielt die Aufhängung der Harnröhre die Hauptrolle.

 

Hier gibt es ein Bindegewebsband im Körper, das sogenannte pubourethrale Ligament, welches die Harnröhre an ihrem Platz hält.
Wenn dieses Band überdehnt oder eingerissen ist und es dadurch die Harnröhre nicht mehr so gut halten kann, entwickelt sich bei diesen Patientinnen meist eine Belastungsinkontinenz was einen unfreiwilligen Harnverlust bei körperlicher Belastung bedeutet.
Die Frauen merken das beim Husten, beim Niesen, beim Tanzen, beim Sport, beim Bergsteigen, beim bergab gehen etc.


Als Dranginkontinenz bezeichnet man unfreiwilligen Harnverlust im Zusammenhang mit dem Drang auf die Toilette zu gehen.



Hier ein Praxisbeispiel:

Eine Frau geht einkaufen, steht vor einem Regal und denkt sich "Jetzt sollte ich bald die Toilette aufsuchen!“, schafft es dann vielleicht noch bis zur Kassa, aber dann stehen 5 Leute vor ihr an und es ist ihr nicht mehr möglich den Harn zurückzuhalten, bis sie das Geschäft verlässt.
--> Dann geht es in die Hose!

 

 

Auch das ist häufig die Folge einer Bindegewebsschwäche. Das betrifft hier aber weniger die Harnröhre, sondern mehr das Bindegewebe unter der Blase.
Es gibt eine Bindegewebsschicht zwischen der vorderen Scheidenwand und dem Blasenboden.


Wenn dieses Bindegewebe durchhängt bzw. nicht mehr kompetent ist, senkt sich der Blasenboden ab und das erzeugt einen unwiderstehlichen Harndrang.


In diesem Fall ist das Konzept der Therapie die Verstärkung des Bindegewebes in dieser anatomischen Region. Wohingegen die Behandlung der Belastungsinkontinenz auf das pubourethrale Ligament abzielt d.h. man verstärkt die Region dieses Pubourethralligaments.


Die Blasenentleerungsstörung ist somit das Resultat einer fortgeschrittenen Senkung d.h. die Gebärmutter und die vordere Scheidenwand sinken nach unten, weil das Bindegewebe es nicht mehr halten kann und mit der vorderen Scheidenwand sinkt auch die Blase mit. Das kann im fortgeschrittenen Stadium so weit gehen, dass die Blase zum Teil sogar vor dem Scheideneingang heraushängt. Hier spricht man von einer fortgeschrittenen Senkungsproblematik.
Aus dem Teil, der so weit nach unten gesunken ist kann die Frau den Harn nicht mehr entleeren, da dies rein physikalisch nicht mehr möglich ist. Dadurch bildet sich Restharn und dieser Restharn kann sich leicht entzünden. Die Patientinnen klagen über häufigere Blasenentzündungen. Dadurch, dass die Blase nie ganz leer wird und immer 1/8 - 1/4 l Harn drinnen bleibt, müssen diese Patientinnen häufiger auf die Toilette, weil die Füllkapazität der Blase schneller erreicht wird.

 

 

Auch hier wird wieder das Therapieprinzip wirksam, das Bindegewebe zu verstärken und die Anatomie wieder herzustellen, so wie sie eigentlich sein sollte, um die Blase wieder normal entleeren zu können.

 

CredoWeb: Wie erfolgt die Diagnosestellung?


Prim. DDr. Burghard Abendstein: Die Diagnosestellung beginnt in erster Linie mit einem ausführlichen Gespräch, wobei man gezielte Fragen stellt. Dann kann man sich meistens schon ein Bild von der Anatomie, welche hier zugrunde liegt, machen.

 

 

Nach dem Gespräch folgt eine normale klinische Untersuchung, bei der man genau den Beckenboden beurteilt und schaut, ob das Bindegewebe überall normal ist oder ob es verändert oder überdehnt ist.

Danach kann man einen sogenannten Stresstest machen. Die Patientinnen werden hier in einer liegenden Position untersucht. Man bittet die Patientinnen, welche über Belastungsinkontinenz klagen, mit einer normal gefüllten Blase in die Ordination oder auf die Klinik zu kommen. Wenn sie dann am Untersuchungsstuhl husten und sie dabei Harn verlieren, kann man das Gewebe, welches dafür verantwortlich ist, sogleich mit einer Pinzette oder einem anderen Instrument unterstützen, die PatientInnen nochmal husten lassen und dann sieht man quasi sofort, ob dieser Therapieansatz Erfolg hat. Wir nennen das eine virtuelle Operation.
Das ist etwas, was man praktisch gleich bei der 1. Untersuchung testen kann.


Mit diesen 3 Schritten, sprich einer ausführlichen Anamnese, der klinischen Untersuchung und der virtuellen Operation sind 80% der Patientinnen bereits ausreichend untersucht.

 

Natürlich macht man zusätzlich eine Harnuntersuchung, eine Ultraschalluntersuchung und wenn es unklar bleibt, was in einigen Fällen dann immer noch der Fall ist, dann geht es in eine aufwendigere Methode, welche man urodynamische Untersuchung nennt.
Das macht man mit einem speziellen Katheter und Messsystem, wobei man einen Katheter über die Harnröhre in die Blase legt. Hierbei handelt es sich um einen Katheter, der mit Drucksensoren ausgestattet ist, wodurch man die verschiedenen Drücke in der Blase und in der Harnröhre messen kann.

Anhand dieser Informationen kann man auf das Problem rückschließen und dann entscheiden, ob eine operative Therapie oder eine konservative Therapie mit Medikamenten Abhilfe schaffen könnte.


CredoWeb: Wie sehen die derzeitigen Möglichkeiten der Therapie aus?

 

Prim. DDr. Burghard Abendstein: Die Blase ist kein Organ, welches man bewusst ansteuern kann. Man kann nicht sagen, ich denke jetzt ganz fest an meine Blase und dann werde ich sie auch entleeren. Die Blasenentleerung funktioniert über die unterschiedliche Anspannung von Beckenbodenmuskeln.


Deshalb ist der erste Weg der Therapie immer ein Beckenbodentraining!

 

Ein Beckenbodentraining ist eine Physiotherapie im weitesten Sinne, die sich auf den Beckenboden konzentriert.


Es ist außerdem von großer Bedeutung, dass Patientinnen auch nach einer erfolgreichen operativen Therapie, ihr Beckenbodentraining fortsetzen, um den OP-Erfolg länger genießen zu können.


Somit ist der 1. Schritt immer, den Patientinnen klar zu machen, dass sie mit einem Beckenbodentraining beginnen sollen, sofern der anatomische Defekt nicht so fortgeschritten ist, dass man sagen kann, dass ein Training dieser Art sicher nichts mehr bringen kann. Auch das gibt es natürlich.
Darum ist es wichtig ein offenes Gespräch zu führen und den Patientinnen klar zu machen, was möglich ist und was nicht.

Die medikamentöse Therapie zielt im Wesentlichen auf die Dranginkontinenz ab.
Bei einer Dranginkontinenz kann ein defektes Bindegewebe, Entzündungen (wenn die Blasenwand entzündet ist, entsteht auch ein vermehrter Harndrang) oder eine sogenannte "nervöse Blase" (= die Nerven, die die Blasenentleerung steuern, überreagieren) vorliegen. Hier gibt es Medikamente, die die Rezeptoren für diese Nerven etwas blockieren. Dadurch kann man häufigen Harndrang unterdrücken und diesen Patientinnen wieder eine normale Lebensqualität geben.

Da hat sich in den letzten Jahren auch einiges getan. Es sind neue Medikamente dazu gekommen, die man mit den bisherigen kombinieren oder sogar diese sogar ersetzen kann. Sie haben weniger Nebenwirkungen und einen höherem Wirkungsgrad.


Die operativen Therapieformen sind in der Regal minimal invasiv und werden üblicherweise von der Scheide aus gemacht.
Mittlerweile werden die OPs mit Zuhilfenahme von Kunststoffnetzen und anderem Kunststoffmaterial durchgeführt. Der Hintergrund ist, dass der Körper, um so ein Kunststoffband oder um ein Kunststoffnetz herum neues Bindegewebe bildet. Das macht übrigens jeder Körper, in jedem Alter!
Man nennt dies Fremdkörperreaktion. Der Körper reagiert also auf ein Fremdmaterial in der Weise, dass er es abkapseln will. Die Bänder und Netze sind sehr großmaschig produziert, welche der Körper nicht abkapseln kann. Der Körper bildet einfach Bindegewebe um das Band oder Netz herum.

 

Dies wurde für diese Indikationen Mitte der 80er Jahre erforscht - dieses System ist also noch nicht sehr alt. Dass man sich das für eine operative Therapie zunutze macht, gibt es seit Mitte der 90er Jahre. Wir reden also von Erfahrungen, die bereits ein 1/4 Jahrhundert alt sind.


CredoWeb: Was kann "Frau" selbst für eine gesunde und starke Blase präventiv tun?

 

Prim. DDr. Burghard Abendstein: Das Bindegewebe besteht im Wesentlichen aus 2 Kollagentypen, nämlich das Kollagen 1 und das Kollagen 3. Das Verhältnis dieser beiden Kollagenarten zueinander legt die Belastbarkeit fest. Das ist jedoch genetisch vorgegeben. Deshalb gibt es eben auch Frauen mit Krampfadern und Frauen mit Bindegewebsschwäche und andere, die das eben nicht haben.
Da kann man also leider wenig dagegen tun.

 


Was man jedoch sehr wohl tun kann ist, auf ein Normalgewicht zu achten, da übergewichtige Frauen in einem höheren Prozentsatz von Blasenentleerungsprobleme betroffen sind als normalgewichtige Frauen. Der Grund dafür ist, dass der Bauchinhalt ein ganzes Leben lang auf den Beckenboden drückt.

 

 

Sehr wichtig ist auch eine normale ausgewogene sportliche Lebensführung (hier wird ja der Beckenboden automatisch mitbenutzt und trainiert).
Ebenso kann man darauf achten, dass man richtig hebt. Dass man schwerere Gegenstände so hebt, dass man den Beckenboden nicht belastet (in die Knie gehen!)
Manche Menschen sind konzentriert darauf täglich Stuhlgang zu haben und wenn das nicht von selbst geht, dann wird gepresst. Das geht alles zulasten des Beckenbodens.
Wenn man unter Verstopfung leidet, dann sollte man ausreichend viel trinken und evtl. entsprechende Laxantien (= Abführmittel) einnehmen. Keinesfalls sollte man durch ständiges heftiges Pressen den Beckenboden überbelasten.

 

 

Interview: Christina Neumayer/CredoWeb

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