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Inkontinenzchirurgie: Wann ist eine OP empfehlenswert?

Inkontinenzchirurgie: Wann ist eine OP empfehlenswert?


Prim. Dr. Dieter Kölle, MSc
ist nicht nur Facharzt für Gynäkologie & Geburtshilfe, er ist ebenso Leiter der Gynäkologischen Abteilung am Sanatorium Hera in Wien und führt zusätzlich eine Wahlarztpraxis in der Lazarettgasse in 1090 Wien.
Dr. Kölle hat besondere Erfahrung auf den Gebieten der klassischen gynäkologischen Chirurgie, der Abklärung von Harnverlust (auch mittels Urodynamik) und der Inkontinenz- und Senkungschirurgie.

 


CredoWeb:
Welche Arten der Harninkontinenz gibt es & welche Ursachen stecken dahinter?

 


Prim. Dr. Dieter Kölle, MSc:
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Harnverlust durch die Harnröhre (das ist der „Normalfall“) oder über andere Wege außerhalb der Harnröhre (Fisteln).

Fisteln sind insgesamt sehr selten, jedoch in Ländern mit sehr schlechter Gesundheitsversorgung häufiger und meist Folge von unversorgten Geburtsverletzungen und daraus resultierenden offenen Verbindungen („Löchern“) zwischen Scheide und Harnblase. In Industrieländern kommen Fisteln ganz selten vor und sind in der Regel entweder Folge von Tumorerkrankungen und Bestrahlungen oder eine sehr seltene Komplikation von größeren Operationen im kleinen Becken.


Im Regelfall erfolgt der Harnverlust durch die Harnröhre. Die beiden Hauptformen sind die Belastungs(harn)inkontinenz, früher auch als Stress(harn)inkontinenz bezeichnet, und die sogenannte Dranginkontinenz oder überaktive Blase (= OAB wet = overactive bladder wet). 

 

Typische Symptome der Belastungsinkontinenz sind der Harnverlust beim Husten, Niesen, Lachen, Heben von Lasten, Abwärtsgehen oder Treppensteigen. Die Belastung bzw. der „Stress“ liegt dabei in einem plötzlichen Druckanstieg im Bauchraum z.B. beim Husten oder Niesen. Aufgrund eines sehr geringen Ruhedrucks in der Harnröhre oder (häufiger) einer nicht mehr gut funktionierenden Verankerung der Harnröhre bzw. der Region am Übergang zwischen Harnblase und Harnröhre kommt es praktisch zeitgleich zum tröpfchen- bis strahlartigen Harnabgang durch die Harnröhre. Es handelt sich also um ein Problem der Harnröhre bzw. deren Verankerung. Die Harnblase selbst funktioniert meist normal.

 

Die sogenannte überaktive Blase (OAB) ist gekennzeichnet durch häufigen und/oder verstärkten Harndrang sowie Harndrang bei geringer Blasenfüllung (OAB dry) und im Falle von Harnverlust (OAB wet) kommt es zuerst zu einem starken Harndrang, welcher nicht mehr unterdrückt werden kann und in unmittelbarer Folge zu einer Kontraktion der Blase, was zum Harnverlust und nicht selten zur vollständigen Blasenentleerung führt. Dieses Beschwerdebild ist für die Patientinnen oft viel störender als eine milde Form von Belastungsinkontinenz, da es auch zur vollständigen Entleerung der Blase kommen kann.

 

 

Die Ursache kann in zahlreichen neurologischen Erkrankungen liegen (= neurogene Dranginkontinenz), da die Steuerung der Harnblase extrem komplex ist und bei Störungen im Bereich des Rückenmarks oder des Zentralnervensystems (ZNS, Gehirn) die Hemmung der Blase relativ rasch gestört ist. Bei gynäkologischen Patientinnen findet sich aber meist die sogenannte idiopathische Detrusorinstabilität. Dabei kommt es immer wieder während der Füllphase der Harnblase zu ungewollten Blasenkontraktionen verknüpft mit Harndrang, die einige Zeit lang durch das ZNS unterdrückt werden können, ab einer gewissen Füllmenge aber dann zum Harnverlust und zur Blasenentleerung führen, falls die Patientin nicht vorher die Blase selbst auf der Toilette entleert hat.

 

Eine weitere häufige Form ist die sogenannte „enthemmte Blase“ oder oft auch als „Altersblase“ bezeichnet. Dabei bleibt der Druck in der Harnblase längere Zeit stabil und ohne Dranggefühl. Ab einer bestimmten Füllmenge, welche oft deutlich geringer als die normale Blasenkapazität ist, kommt es dann zu einem plötzlichen imperativen (sehr drängenden) Harndrang kombiniert mit einem starken Druckanstieg in der Blase, mündend in einer willkürlich nicht mehr verhinderbaren Blasenentleerung. Es betrifft häufig ältere Patientinnen, welche berichten, dass sie es nach dem Auftreten des ersten Harndrangs nicht mehr bis zur Toilette schaffen. Bei neurologischen Erkrankungen kann es während der Füllphase auch zu einem kontinuierlichen Anstieg des Blasendrucks bis zum „Überlaufen“ der Blase kommen, wenn der Druck in der Blase den Harnröhrendruck übersteigt. Ähnlich funktioniert auch die sogenannte Überlaufblase, bei der die Blase aufgrund einer zu großen Füllung „überläuft“.

Diesem Phänomen können unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, welche in einer Unfähigkeit zur Entleerung der Blase münden.

 

 

CredoWeb: Bei welchen Beschwerden sollte man in jedem Fall seine Ärztin/seinen Arzt aufsuchen?

 

 

Prim. Dr. Dieter Kölle, MSc: Eine Ärztin/ein Arzt sollte auf jeden Fall aufgesucht werden, wenn es unmöglich ist, die Blase zu entleeren, um Schaden von Harnblase und Nieren abzuwenden. Hier muss sowohl eine akute Blasenentleerungsstörung (= Harnverhaltung) als auch eine Anurie (= fehlende Harnproduktion im Rahmen von z.B. Nierenversagen) ausgeschlossen werden.

 

Bei ganz plötzlich auftretendem Harnverlust sollte eine Blasenentzündung ausgeschlossen werden. Ansonsten gilt die generelle Regel, dass es Sinn macht, medizinische Hilfe dann in Anspruch zu nehmen, wenn die Inkontinenz subjektiv störend wird.

 

 

Dies können für einige Frauen schon wenige Tröpfchen Harnverlust bei körperlich sehr anstrengendem Workout, für andere aber auch objektiv betrachtet sehr viel Urin mehrmals am Tag und täglich sein. Entscheidend ist der subjektive Leidensdruck.  

 

 

CredoWeb: Wie erfolgt die Diagnosestellung?

 

Prim. Dr. Dieter Kölle, MSc:

 

 

  • Anamnese und gezielte Befragung nach bestimmten Symptomen und Risikofaktoren,
  • eine gynäkologische Untersuchung mit besonderer Beachtung, ob auch eine Genitalsenkung parallel zur Inkontinenz vorliegt,
  • die Bestimmung des Volumens von Restharn nach einer Miktion,
  • die Beurteilung der Fixierung der Blasenhalsregion mittels Ultraschall,
  • der Ausschluss einer Blasenentzündung, eine Harnuntersuchung sowie
  • die Durchführung eines klinischen Hustenstresstests (= Beobachtung, ob es bei kräftigem mehrfachem Husten im Stehen zum hustensynchronen Harnverlust kommt)

 

zählen zur Basisdiagnostik der Inkontinenzabklärung.

 

 

Bei der vaginalen Palpation kann auch die Funktion der Beckenbodenmuskulatur klinisch überprüft werden. Sehr hilfreich sind auch Blasenprotokolle, die von der Patientin bereits im Vorfeld ausgefüllt und zur Untersuchung mitgebracht werden. Mit diesen einfachen Mitteln lassen sich bereits ziemlich gut abgesicherte Verdachtsdiagnosen stellen und es kann ein konservativer Therapieversuch gestartet werden.

 

Bei komplexen Situationen oder erfolgloser konservativer Therapie ist eine weiterführende Diagnostik indiziert. Dazu zählen beispielsweise die Durchführung einer Zystoskopie (Blasenspiegelung), Elektromyographie, erweiterte Bildgebung, urodynamische Messungen (= „Blasendruckmessung“), sowie neurologische und/oder internistische Untersuchungen. Diese Abklärung sollte an Spezialabteilungen oder von besonders ausgebildeten Fachärztinnen/Fachärzten durchgeführt werden.


 

CredoWeb: Welche Therapieoptionen gibt es derzeit?

 

 

Prim. Dr. Dieter Kölle, MSc: Die Therapie hängt einerseits von der Art der Inkontinenz ab und andererseits von der Sicherheit der Diagnose bzw. vom Schweregrad der Inkontinenz.

 

Für die Belastungsinkontinenz stehen einerseits konservative Methoden wie Beckenbodentraining mit und ohne Biofeedback, Elektrostimulationstherapie sowie die Pessartherapie zur Verfügung.

 

 

Falls dies nicht zum Erfolg führt oder wenn das Ausmaß an Inkontinenz zu schwerwiegend ist, so stehen spezielle Anti-Inkontinenz-Operationsverfahren zur Verfügung. Ziel der operativen Therapie ist die Heilung, d.h. im Idealfall die Reduktion an inkontinenten Episoden auf null.

 

Medikamente gegen Belastungsinkontinenz wurden zwar getestet, haben im Vergleich zu Placebo bisher aber nicht wirklich zu sehr beeindruckenden Resultaten geführt.

 

Der Schwerpunkt der Therapie der Dranginkontinenz liegt einerseits in der medikamentösen Therapie, andererseits in der Änderung des Verhaltens (Verhaltenstherapie; z.B. Blasen- oder Toilettentraining). Auch die Elektrostimulationstherapie hat einen gewissen Effekt. Verwendung finden vor allem Anticholinergika, die auf bestimmte Rezeptoren der Harnblase gerichtet sind und die Miktion dämpfen durch medikamentöse Schwächung des Parasympathikus. Ein zweiter Ansatz zielt auf die Beeinflussung des Sympathikus ab (Sympathikomimetika) mit einer Erhöhung der Stabilität der Blase während der Füllphase. Die Medikamente müssen unterschiedlich lange, von manchen Patienten auf Dauer genommen werden. Auch aufgrund der Nebenwirkungen ist die Compliance vieler Patientinnen häufig leider nicht die allerbeste. Ziel der Therapie ist die Reduktion der Anzahl an inkontinenten Episoden. Eine vollständige Heilung gelingt leider nicht immer, eine deutliche Besserung jedoch sehr häufig. Gute Chancen bestehen bei milden Fällen oder vorübergehend.

 

 

In den letzten Jahren wurde eine neue chirurgisch-medikamentöse Therapie entwickelt, welche sehr gute Erfolge in therapieresistenten Fällen zeigt. Es handelt sich dabei um Botox®-Injektionen in die Blasenwand über eine Blasenspiegelung.

Dies führt zur Lähmung von einzelnen Arealen der Blasenmuskulatur für einen Zeitraum von meist 6-8 Monaten. Danach muss die Prozedur wiederholt werden. Eine andere Möglichkeit ist die sakrale Neuromodulation mit Hilfe eines implantierten Sakralwurzelstimulators oder eine periphere elektrische Nervenstimulation.

 

 

CredoWeb: Wann ist eine Operation empfehlenswert bzw. unumgänglich?

 

 

Prim. Dr. Dieter Kölle, MSc: Dies hängt von mehreren Faktoren ab.

 

Aus meiner Sicht die entscheidendsten Kriterien sind der subjektive Leidensdruck sowie das objektivierbare Ausmaß des Harnverlusts bzw. der persönlichen Einschränkung durch die Inkontinenz.

 

Eine gute Indikation liegt beispielsweise bei einer Patientin vor, die an einer reinen Belastungsinkontinenz leidet, bei der das Beckenbodentraining nicht zum Erfolg geführt hat, bei der es im Hustenstresstest zum spritzer- bis strahlartigen Harnabgang kommt und die versteht, dass eine 100%-ige Erfolgsaussicht auch bei einer Operation nicht gegeben ist.

 

Schwieriger wird es bei den häufigen Mischformen, also wenn sowohl eine Belastungsinkontinenz als auch eine überaktive Blase vorliegen. Hier gilt es abzuwägen und mit der Patientin eine gemeinsam erarbeitete Stufentherapie zu entwickeln.

 

Die Dranginkontinenz wird grundsätzlich konservativ behandelt, nur im Falle des Therapieversagens kommt die Operation (z.B. Botox®-Injektion in die Blasenwand) als zugegeben erfolgversprechende Methode in Betracht.



CredoWeb: Wie genau ist der Ablauf einer solchen OP und was muss man nach der Operation beachten?

 

 

Prim. Dr. Dieter Kölle, MSc: Die Standardoperation zur Behandlung der Belastungsinkontinenz ist die Einlage eines spannungsfreien Bandes unterhalb der Harnröhrenmitte. Die Operationsmethode wurde Ende der 1990er-Jahre von Prof. Ulf Ulmsten an der Univ.-Frauenklinik Uppsala in Schweden erfunden. Dabei wird über einen 1 cm langen Schnitt in der Scheide unterhalb der Harnröhrenmitte mit Hilfe von dicken Nadeln ein rund 1cm breites Kunststoffnetzband aus Prolene mit groben Maschen beidseits seitlich an der Harnröhre vorbei und zwischen Harnblase und Schambein bis zur Bauchdecke hin durchgeführt (= TVT-Methode retropubisch; TVT = tension-free vaginal tape), sodass eine V-förmige unterstützende Halterung für die Harnröhre entsteht. Diese „Schlinge“ wirkt wie ein Widerlager beim Husten oder Aufheben von Lasten und führt zur Kompression bzw. Abknicken der Harnröhre bei plötzlichem Druck von oben auf den Beckenboden. Diese Methode kann auch in Lokalbetäubung durchgeführt werden.

 

 

Alternativ dazu gibt es auch die sogenannten transobturatorischen Bänder (= TVT-O), wobei hier mit Spezialnadeln das Prolene-Band durch das Foramen obturatum (das ist die fast kreisförmige Öffnung des Schambeins) hindurch zur Oberschenkelinnenseite geführt wird. Die Erfolgsraten sind statistisch nicht schlechter im Vergleich zur „klassischen“ TVT-Methode, die möglichen Komplikationen und die Wirkungsweise sind aber unterschiedlich. Es entsteht hier anstelle einer V-Aufhängung eher eine flache U-Form.

Die früher gebräuchlichste Operationsmethode der Kolposuspension nach Burch erzielte vergleichbare Erfolgsraten, erforderte jedoch einen Bauchschnitt und war für die Patientin deutlich belastender.

 

Direkt nach der Operation muss auf die Blasenentleerung geachtet werden und durch Kontrollen die Freiheit von Restharn gezeigt werden. Sollte sich die Harnblase nicht vollständig entleert können, so sind entsprechende Maßnahmen zu veranlassen.

 

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sollte die Patientin sich abhängig von ihrer beruflichen Tätigkeit für rund 8-12 Wochen schonen, wobei dies eher klinischer Erfahrung und weniger wissenschaftlichen Erkenntnissen geschuldet ist.

Die Lage des Bandes kann sich in den ersten Tagen bei extremer Belastung noch verändern, da die Haltbarkeit erst durch das Einwachsen von Narbengewebe durch die Poren des Netzes erfolgt.

 

Bis zur vollständigen Verheilung der kleinen vaginalen Wunde sind außerdem Geschlechtsverkehr, Vollbäder und das Einbringen von Fremdköpern (z.B. Tampons) in die Scheide verboten, da die Wundheilung hier gelegentlich Probleme machen kann. Offene Stellen oberhalb des Prolene-Bandes heilen meist nur sehr schwer wieder zu aufgrund der Fremdkörperreizung und des bakteriellen Milieus in der Scheide.

 

Langfristig sollte auf extremes Heben oder bestimmte Sportarten mit sehr hoher Belastung des Beckenbodens eigentlich verzichtet werden. Die Familienplanung sollte vor Durchführung einer Inkontinenzoperation abgeschlossen sein.

 

 

Interview: Christina Neumayer/CredoWeb

 

 

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