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Schmerz, lass nach

Schmerz, lass nach

Wenn akuter Schmerz seine eigentliche Funktion als Warnsignal verloren und sich zu einem eigenen Krankheitsbild entwickelt hat, spricht man von chronischem Schmerz. Die Ursachen dieses Prozesses sind noch wenig erforscht. Ein Team um die Innsbrucker Physiologin Michaela Kress liefert nun innovative Ansätze, um einzelne Schritte der Chronifizierung sichtbar zu machen und hat dafür den Forschungspreis der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) erhalten.

 

Akuter Schmerz entsteht, wenn freie sensorische Nervenendigungen – sogenannte Nozizeptoren – verletzt und aktiviert werden. Sie warnen uns vor möglichen Gefahren und schützen letztendlich den Körper vor drohenden Gewebeschäden. Ein Viertel der weltweiten Bevölkerung leidet hingegen unter chronischen Schmerzen, die länger als sechs Monate anhalten. Deren Ursachen, insbesondere die an den aktivierten Nozizeptoren stattfindenden Veränderungen, bleiben bislang zum Großteil unklar. Die Relevanz der Schmerzforschung wird nicht zuletzt mit der Vergabe des diesjährigen Medizin-Nobelpreises an die Sinnesforscher David Julius und Ardem Patapoutian für ihre Entdeckung von Rezeptoren für Temperatur und Berührung im Körper unterstrichen.

 


Aus induzierbaren pluripoenten Stammzellen differenzierte nozizeptive Nervenzellen. Wie native Nozizeptoren enthalten sie das Neuropeptid Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP/rot) und den Zytoskelettbestandteil Beta-3-Tubulin, (TUJ1/grün). Die Zellkerne sind gefärbt mit DAPI (blau). © Inst. für Physiologie

 

Komplexes Krankheitsbild

 

Michaela Kress, Direktorin des Instituts für Physiologie an der Medizinischen Universität Innsbruck, forscht mit ihrem Team bereits seit vielen Jahren zur Chronifizierung von Schmerz. Dabei hat sie vor allem Nozizeptoren im Visier und ist jenen Mechanismen und Signalwegen auf der Spur, die durch microRNAs1) gesteuert werden. „Chronische neuropathische Schmerzen gehen mit sehr komplexen Veränderungen einher, die anfangs vor allem die Nervenzellen und schließlich auch Rückenmark und Gehirn betreffen, bis sie sich schließlich in das sogenannte Schmerzgedächtnis eingebrannt haben. Auch Komorbiditäten wie Depressionen oder kognitive Beeinträchtigungen können die Folge sein. Nur wenn wir diese Prozesse besser verstehen, können wirksame Therapien entwickelt werden“, so Kress.

 

Zwar hat die Wissenschaft bisher vor allem mit Hilfe von Mausmodellen und Genexpressionsanalysen2) eine Reihe von relevanten molekularen Mechanismen aufgeklärt, die die Funktion von Nozizeptoren dauerhaft verändern können, doch nicht immer lassen sich die Erkenntnisse aus den Mausmodellen auf den Menschen übertragen. Die Differenzierung humaner Nozizeptoren aus humanen induzierbaren pluripotenten Stammzellen (iPSC) bietet einen Ausweg, den auch das Team um Kress genutzt hat. Die Erkenntnisse aus dieser Arbeit sind kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Advanced Science erschienen.

 

Neuronale Entwicklungsstufen unter der Lupe

 

„Es gelang uns, unterschiedliche Differenzierungsstufen von humanen sensorischen Neuronen zu modellieren. Wir waren zudem die ersten, die mittels gepaarter Analyse von Boten-RNA (mRNA) sowie microRNA (miRNA) Transkripten zu unterschiedlichsten Zeitpunkten im Verlauf der Nozizeptor-Entwicklung Interaktionen zwischen miRNA und mRNA analysiert haben“, erklärt Studienautor Maximilian Zeidler. Mit diesem Ansatz konnten die ForscherInnen Gene sowie miRNAs auf Grund des zeitlichen Verlaufes ihrer Aktivierung spezifischen Entwicklungsstadien sensorischer Neurone zuordnen sowie Kandidaten mit Schlüsselfunktionen (sogenannte Hub-Gene oder Hub-microRNAs) identifizieren, die besonders wichtig für die Entwicklung von Nozizeptoren sind. Komplexe bioinformatische Analysen ermöglichten es schließlich, Interaktionen von einzelnen mRNA und miRNA Kandidaten sowie potentielle Funktionen der miRNAs im Verlauf der Entwicklung humaner Nozizeptoren vorherzusagen. Vor allem die Entwicklung von Synapsen, das Wachstum von Fortsätzen sowie die Regulation von Ionenkanälen stellen zentrale Prozesse in diesem Kontext dar.

 

Wissenschaftlicher Mehrwert

 

Um die Analysen sowie den Datensatz der Studie öffentlich zugänglich machen zu können, entwickelten die Innsbrucker ForscherInnen schließlich die Online-Ressource NOCICEPTRA, die allen interessierten WissenschafterInnen frei zur Verfügung steht. „Unser Analyse-Tool ermöglicht konkrete Abfragen. Im Zentrum der Forschung zur Therapie von chronischem Schmerz stehen derzeit die Transduktions-Ionenkanäle TRPV1 und TRPA1, deren Entdecker D. Julius und A. Patapoutian den diesjährigen Nobelpreis für Medizin und Physiologie bekommen haben. Wenn sich eine Forscherin oder ein Forscher zum Beispiel für das Gen TRPV1 oder das Gen TRPA1 interessiert, kann über unser Tool deren Expression im Zeitverlauf sowie alle miRNAs, die den jeweiligen Ionenkanal direkt oder indirekt regulieren, abgefragt werden. So lassen sich Voraussagen über Zusammenhänge treffen, die für die Entwicklung effizienter Schmerztherapien maßgeblich sein könnten“, schließt Kress.

 

Die federführenden AutorInnen der Studie, Maximilian Zeidler, Kai K. Kummer und Michaela Kress wurden dafür kürzlich von der Österreichischen Schmerzgesellschaft ÖSG mit dem diesjährigen Fred Lembeck-Wissenschaftspreis für die beste vorklinische Arbeit ausgezeichnet.

 


v.l.: Maximilian Zeidler, Michaela Kress und Kai Kummer. © MUI/Heidegger

 

Steckbrief:

Die Medizinerin Michaela Kress wurde 2003 als Universitätsprofessorin für Medizinische Physiologie nach Innsbruck berufen, wo sie das Institut für Physiologie leitet. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Interaktionen zwischen Neuronen und Immunzellen in der Schmerzbahn und wie sie zur Entstehung von neuropathischen Schmerzen beitragen. Die Koordinatorin des EU-Konsortiums „ncRNAPain“ ist derzeit im Programmkomitee für den Kongress der Europäischen Schmerzgesellschaft EFIC im Frühjahr 2022 in Dublin aktiv. 

 

1) miRNAs sind kurze, nicht codierende RNA Fragmente, die Gene abschalten bzw. deren Übersetzung in Proteine hemmen können. Im Gegensatz zur messenger RNA werden sie nicht in Proteine übersetzt.

 

2) Die Genexpressionsanalyse bzw. Transkriptomanalyse ist ein molekularbiologisches Verfahren, das Information darüber gibt, welche Gene in der Zelle aktiv sind.

 

Forschungsarbeit:

NOCICEPTRA: Gene and microRNA Signatures and their Trajectories Characterizing Human iPSC-Derived Nociceptor Maturation.

 

https://doi.org/10.1002/advs.202102354

 

 

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