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Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Österreich braucht dringend neue Impulse

PK von ÖGPP und pro mente Austria zum Internationalen Tag der seelischen Gesundheit, Statement Chefarzt Prim. Dr. Georg Psota, Past Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie


Ich möchte Sie zu einem Gedankenexperiment einladen: Stellen Sie sich bitte vor, ich würde Facharzt eines anderen Fachgebietes sein, zum Beispiel Diabetologe, und Ihnen mitteilen, dass wir in Österreich leider nicht alle Kinder und Jugendlichen mit Typ 1-Diabetes behandeln können und viele davon ihrem Schicksal überlassen müssen. Das wäre völlig undenkbar. Oder, ein anderes Beispiel: Wenn hier ein Lungenfacharzt säße und nachweist, dass sich Tuberkulose rasant ausbreitet und die Situation sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch verschärfen wird. Dann würden wir doch keine Sekunde zögern, mehr Lungenfachärzte auszubilden, einzustellen und entsprechend zu bezahlen.

Worauf ich hinaus will, ist die Frage, warum wir in Österreich, wenn es um die Versorgungssituation psychisch Kranker geht, seit Jahren Entwicklungen akzeptieren, die bei jedem anderen Krankheitsbild als inakzeptabel gelten würden. Offenbar gelten psychische Erkrankungen immer noch als Krankheiten 2. Klasse, und damit als solche, die auch nur eine Behandlung 2. Klasse verdient haben.

Nicht umsonst hat die World Foundation for Mental Health heuer den alljährlich am 10. Oktober begangenen Internationalen Tag der seelischen Gesundheit unter das Motto „Die Würde der seelischen Gesundheit“ gestellt. Noch immer befinden sich psychische Krankheiten und Menschen, die daran erkrankt sind, in einer Tabuzone, darüber redet man lieber nicht. Zusammengefasst kann man die Art und Weise, wie wir mit psychiatrischen Patientinnen und Patienten umgehen, nur als nicht zeitgemäß bezeichnen: Ich fürchte, das werden wir erst in 10 Jahren erkennen und rückblickend bedauern.

Psychische Krankheiten sind Volkskrankheiten – Jeder Dritte braucht längerfristige Therapie

Schon die Tatsache, dass wir in Österreich nicht einmal über valide Prävalenzzahlen verfügen, zeigt,, dass sich der Stellenwert dieser Krankheiten in Grenzen hält. Am Befund ändert sich durch diese Ignoranz freilich nichts: Psychische Krankheiten, das lässt sich aus internationalen und umlegbaren deutschen Studien ablesen, gehören mittlerweile zu den am weitest verbreiteten überhaupt. Nach einer WHO-Studie leidet weltweit jeder vierte Arztbesucher an einer psychischen Krankheit. Angsterkrankungen, Depression, Alkohol- und andere Suchterkrankungen, Demenz, bipolare Störungen und Schizophrenien zählen dabei nur zu den häufigsten.

In den europäischen WHO-Staaten erkrankt einer von 15 Menschen pro Jahr an einer schweren Depression. Angststörungen und leichtere Depressions-Formen eingerechnet, sind es vier von 15. Von Suchterkrankungen abgesehen, sind Frauen häufiger betroffen als Männer: 33,2 vs. 21,7 Prozent.

Etliche Studien gehen davon aus, dass ein Drittel bis die Hälfte aller Menschen im Lauf des Lebens zumindest einmal an einer psychischen Erkrankung laboriert. Das heißt nicht, dass alle auch eine Behandlung brauchen, wie umgekehrt ja auch nicht jedes körperliche Leiden gleich von einer Ärztin oder einem Arzt behandelt werden muss. Aber in zumindest der Hälfte der Fälle ist eine kurzfristige Intervention nötig, längerfristige oder ständige Betreuung würde etwa jeder Dritte brauchen.

Die WHO gibt regelmäßig Berechnungen zur „Krankheitslast“ (Burden of disease) bekannt und hier rangieren in unseren Breiten bereits jetzt Depressionen und Suchterkrankungen – vor allem die Alkoholsucht – unter den Top 5. In der WHO Prognose für 2030 ist dann die Depression die neue Nummer 1 und Demenzerkrankungen und Süchte folgen bald danach – so werden dann gleich drei psychische Krankheitsbilder unter den Top 5 der „Krankheitslast“ aufscheinen. Die Gründe dafür sind vielfältig und leider nicht so leicht veränderbar. Hauptverantwortlich für den Zuwachs bei Demenz ist natürlich die steigende Lebenserwartung. Diese ist an und für sich erfreulich, wird uns aber auch mit einer steigenden Zahl von Alzheimer- und Demenzerkrankungen konfrontieren.

Zur akuten Versorgungslage für Menschen mit psychischen Erkrankungen in Österreich

Angesicht dieser Entwicklungen ist absehbar, dass wir in verschiedenen Bereichen der psychiatrischen Versorgung schon bald in beträchtliche Schwierigkeiten geraten werden, wenn wir nicht rasch und überlegt handeln. Derzeit ist die psychiatrische Versorgungslage in Österreich so, dass wir gerade noch das Notwendige schaffen.

Während etwa in der Schweiz 30 Psychiater pro 100.000 Einwohner zur Verfügung stehen, gibt es in ganz Österreich weniger als 150 Psychiaterinnen und Psychiater mit einem Kassenvertrag. In manchen Regionen Österreichs gibt es keinen einzigen. Das heißt: Wer nicht zusatzversichert oder reich ist, muss sich einen solchen Kassenplatz mit rund 55.000 anderen teilen. Das führt dazu, dass zirka 70 Prozent aller psychiatrischen Diagnosen und Verordnungen in Österreich von Allgemeinmedizinern vorgenommen werden. Für viele Kranke muss das Rezept für Psychopharmaka dabei als Therapie reichen. So befinden sich von den rund 900.000 Patienten, die mit Antidepressiva versorgt werden, nicht einmal 15 Prozent in einer psychotherapeutischen Behandlung.

Ähnlich ist die Situation im klinischen Bereich. Auch wenn ich der Ansicht bin, dass die weit überwiegende Mehrzahl von Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen kein Spitalsbett zur Gesundung braucht, so sind die stationär klinischen Kapazitäten im internationalen Vergleich einfach äußerst niedrig. Derzeit stehen für 100.000 Einwohner je nach Bundesland gerade einmal 35 bis 55 Betten bereit – damit liegen wir im europäischen Vergleich am unteren Ende der Skala. Um eine adäquate Versorgung aufrecht zu erhalten, braucht es bei Beibehaltung dieser niedrigen Bettenzahlen einen massiven Ausbau ambulanter Behandlungsstrukturen, denn wir haben bereits derzeit abenteuerliche Wartezeiten in diesem Bereich. Zu alledem gibt es einige neue Medikamente, die deutliche Fortschritte in der Therapie bringen können, allerdings werden die allermeisten davon – anders als in fast allen unseren Nachbarländern – in Österreich von den Kassen nicht routinemäßig erstattet. Dazu wird Ihnen Prof. Fleischhacker noch mehr berichten.

Transitionspsychiatrie: Hilfe für die 15- bis 25jährigen

Ein anderes Beispiel, wo wir internationalen Entwicklungen hinterher hinken, ist die sogenannte Transitionspsychiatrie. Diese kümmert sich schwerpunktmäßig um Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren – ein Lebensabschnitt, in dem nachweislich einige wesentliche psychische Erkrankungen beginnen und einen besonders gut begleiteten Behandlungsablauf brauchen, um in dieser Zeit des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen die Möglichkeiten für die Zukunft zu erhalten.

Bei vielen davon ist es wie bei körperlichen Leiden auch: Je früher eine Behandlung beginnt, umso aussichtsreicher ist sie. In diesem Alter können viele Störungen, die unbehandelt einen schwierigen Verlauf nehmen und das ganze Leben zeichnen, sogar wieder völlig ausheilen oder zumindest deutlich gemildert werden. In Deutschland gibt es für die Behandlung dieser Zielgruppe bereits eigene Strukturen, in Österreich reden wir dagegen nun schon seit Jahren darüber – leider ohne dass bisher konkrete Schritte gefolgt wären.

Positive Ansätze, aber noch keine Offensive

Zum Glück gibt es in jüngster Zeit auch einige positive Ansätze, die zeigen, in welche Richtung es gehen muss. So ist es sehr zu begrüßen, dass die Psychiatrie in der Medizinausbildung nun doch deutlich besser positioniert ist und jede Ärztin und jeder Arzt in Zukunft zumindest über ein Grundwissen in dieser Disziplin verfügen wird.

Mit der Mangelfachverordnung haben wir endlich auch die Möglichkeiten bekommen, sowohl mehr Kinder- und Jugendpsychiater als auch Erwachsenenpsychiater auszubilden. Diese Chance müssen wir aber auch nutzen. Bisher sind Schritte zur konkreten Umsetzung noch ausständig.

Nicht zuletzt macht auch eine Initiative der Stadt Wien Hoffnung, die derzeit unter Einbindung internationaler Expertinnen und Experten an einem „Psychiatrisch/psychosomatischen Versorgungsplan 2030“ arbeitet, der eine deutliche Aufwertung der psychiatrischen Versorgung bringen könnte. Allerdings können solche Initiativen nur Anreiz für viele weitere sein. Um die Situation nachhaltig zu verbessern, wird es den gemeinsamen Willen aller Verantwortungsträger in der Bundespolitik, den Ländern und den Sozialversicherungsträgern zu einer wirklichen Offensive in der psychiatrischen Versorgung brauchen.

Foto & Quellennachweis: Shutterstock

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