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Sexualmedizin – hinaus aus der Tabuzone

Sexualmedizin – hinaus aus der Tabuzone

Von sexuellen Funktionsstörungen bis hin zur Vasektomie – sexualmedizinisches Wissen sollte integraler Bestandteil der Gesamtmedizin sein.


Sexuelle Funktionsstörungen galten lange als Stiefkind der Medizin. Patienten wurden oft mit ihren Problemen allein gelassen. Seit  2006 ist sexuelle Gesundheit nun in den WHO Gesundheitskriterien verankert und betrifft damit alle medizinischen Disziplinen. Im Vorfeld des wissenschaftlichen Symposiums „Sexualmedizin Interdisziplinär“ vom 1. bis zum  3. Dezember 2016 im Wiener AKH, spricht Mag. Angelika Vötsch-Rosenauer mit dem Urologen und Sexualmedizin-Experten Dr. Erik Randall Huber über seinen Berufsalltag.

CredoMedia: Welche sind die wichtigsten Themen der Sexualmedizin aus der Sicht des Urologen?

Dr. Randall Huber: Für den Urologen steht in der Regel die Erektionsstörung im Fokus. Wobei ich selbst erlebe, dass fast die Hälfte meiner Patienten mit Erektionsstörung unter 50 ist. Dabei handelt es sich um eine andere Form der Erektionsstörung. Während bei älteren Männern eher ein Gefäßschaden eine Rolle spielt, geht es bei jungen Männern  eher um den Performance-Druck, Versagensängste oder Schamgefühle, die zu einer sogenannten sympathikotonen Erektionsstörung führen. Dabei ist der Sympathikus sehr aktiv. Denn der Penis steht unter Kontrolle des vegetativen Nervensystems. Wenn jemand Stress hat, wäre die Erektion biologisch gesehen, nicht sinnvoll. Früher hat der Steinzeit-Mensch gejagt, hat mit dem Säbelzahntiger gekämpft oder ist vor ihm davongelaufen. In dieser Situation wäre eine Erektion nicht sinnvoll gewesen, deshalb hat es der Körper es so eingerichtet, dass die Erektion in einer Stresssituation sofort vergeht. So kommt es auch bei Performance Druck oder bei Versagensängsten zu einem Nachlassen der Erektion ohne dass organisch fassbare Ursachen dafür verantwortlich sind. Mit zunehmendem Alter ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass organische Ursachen Auslöser der Erektionsstörung sind bzw. neben einer psychogenen Komponente vorliegen.

Das zweite große Thema, das wir häufig in der Ordination erleben, ist der vorzeitige Samenerguss - wobei es beim vorzeitigen Samenerguss mehrere Untertypen gibt. Die erste Form ist die angeborene oder genetische Form, wo offensichtlich ein Defekt in der Kontrolle im Gehirn besteht. Das kann man relativ gut medikamentös behandeln. Die zweite Form entsteht aufgrund anderer Erkrankungen, zum Beispiel aufgrund einer Prostataentzündung oder einer Schilddrüsenüberfunktion. Und dann gibt es die dritte Form, die jeder Mann in seinem Leben wahrscheinlich schon einmal erfahren hat, zum Beispiel eine besonders erotische Situation oder eine neue Freundin, bei der die Kontrolle über den Zeitpunkt des Orgasmus vermindert ist. Und die vierte Form, ist die Form der unrealistischen Vorstellungen, wie etwa 15, 20 bis 30 Minuten aushalten zu müssen. In der Sexualmedizin ist im Gespräch mit dem Patienten daher wichtig, zu vermitteln, dass das einfach nicht dazu gehört. Ein vorzeitiger Samenerguss ist vom Alter unabhängig und etwas, was den Mann ein Leben lang begleiten kann.

Ein weiteres wichtiges Thema in der Sexualmedizin ist das Testosteronmangel-Syndrom, dass nicht nur eine sexuelle Funktionsstörung verursachen kann, sondern eine Funktionsstörung vieler Organe des Körpers. Dabei kann es zu Muskelschwund, Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit, Verminderung der Knochendichte und der Merkfähigkeit bis hin zu Herzkranzgefäßerkrankungen kommen. Es handelt sich dabei um eine nicht zu unterschätzende Störung. Allerdings heißt ein zu niedriger Testosteronspiegel noch gar nichts. Testosteron benötigt Rezeptoren, die Testostosteronunterschiedlich stark binden, das heißt ein Mann mit einem niedrigen Testosteronspiegel kann sich auch völlig normal fühlen, ohne Auswirkungen. Und ein anderer Mann mit einem eigentlich normalen Testosteronspiegel kann dennoch ein Testosteronmangelsyndrom aufweisen. Das muss man dann über sogenannte CAG Repeats genau feststellen.

Allerdings gibt es bei den Symptomen auch starke Überschneidungen mit einer Depression. Eine Depression kann einerseits einen Testosteronmangel bedingen, kann aber auch dieselben Symptome wie bei einem Testosteronmangel hervorrufen. Das heißt, für den Experten ist es wichtig, hier sehr gut zu unterscheiden. Hierfür braucht es eine ausführliche Anamnese und ein gutes Gespräch.

Wie sieht die interdiziplinäre Zusammenarbeit aus?

Dr. Randall Huber: Manchmal überweise ich Patienten mit einem Testosteronspiegel im subnormalen Bereich auch zum Psychiater, um die Situation konkret abklären zu lassen oder ich empfehle eine Psychotherapie.

Wir als Urologen und Sexualmediziner machen ja primär eine Diagnostik. Das heißt meine Aufgabe ist die Abklärung der sexuellen Funktionsstörung, in welche Richtung geht das und was ist die geeignete Therapie. Wenn ein Sexualtherapeut notwendig ist, dann überweise ich die Patienten dort hin. Ein Beispiel: Ein vorzeitiger Samenerguss kann beziehungsdynamisch Folgen haben und auch zu einer sexuellen Störung bei der Frau führen. Auch wenn nur die Medikation bei der primären EP hilft, kann eine Sexualtherapie für ein Paar sehr hilfreich sein.

In erster Linie geht es darum, was braucht der Patient jetzt. Bei einer primären Form des vorzeitigen Samenergusses macht eine ausschließliche Sexualtherapie zum Beispiel absolut keinen Sinn.

Welche Fachärzte beschäftigen sich ebenfalls mit Sexualmedizin?

Dr. Randall Huber: Teilweise natürlich Gynäkologen bei den Frauen, Internisten, Endokrinologen, aber auch Allgemeinmediziner machen eine sexualmedizinische Ausbildung. Jeder Arzt, der sich für Sexualmedizin interessiert, kann im Prinzip Sexualmedizin praktizieren. Dazu ist natürlich eine Zusatzausbildung notwendig. Das Multidisciplinary Committee of Sexual Medicine (MJCSM), in dessen Vorstand ich bin, veranstaltet alle 2 Jahre einen Kurs und eine Prüfung zum Fellow of the European Board of Sexual Medicine (FECSM).

Multidisciplinary heißt es deshalb, weil Ärzte aus unterschiedlichen Disziplinen vertreten sind: Urologen, Endokrinologen, Gynäkologen, aber auch Psychiater und Internisten. Wir haben auch Dermatologen dabei, die sich um sexuell übertragbare Krankheiten kümmern. Es handelt sich um ein sehr breites Gebiet.

Weshalb ist das Thema sexuelle Gesundheit heute so wichtig?

Dr. Randall Huber: In der Sexualmedizin ist definitionsgemäß erst dann eine Erkrankung gegeben, wenn sie für den Patienten eine Belastung darstellt. Es gibt Menschen die eine reduzierte Libido haben und damit kein Problem haben. Dann ist es aber auch keine Krankheit. Es gibt auch Männer und Paare, die mit einem vorzeitigen Samenerguss kein Problem haben, dann ist dies ebenfalls keine sexuelle Erkrankung. Wenn diese Situationen für Patienten allerdings eine Belastung darstellen, dann sollte es für den Arzt wichtig sein, zuzuhören und zu behandeln. Es ist Aufgabe des Arztes Lösungen zu finden, Forschung zu betreiben, um hier den Patienten bestmöglich helfen zu können.

Apropos Forschung – gibt es hier eigene Studien zu bestimmten Problemen?

Dr. Randall Huber: Wir arbeiten gerade an einer Studie zur Vasektomie. Wir machen sehr viele Vasektomien im Urologenzentrum.at - ein wichtiger Teil der Sexualmedizin, den ich für Männer mit abgeschlossener Kinderplanung sehr gerne promoten möchte. Denn eine Sterilisation beim Mann  stellt eine deutliche Entlastung für Frauen dar.

Es ist erschreckend, wie viele Mythen zur Vasektomie noch immer existieren. „Das Männer nachher keine Potenz mehr hätten, dass sie keinen Samenerguss mehr hätten, nicht mehr männlich wären“ – all diese Vorurteile bewirken, dass viele Männer sehr zurückhaltend sind, was diesen Eingriff betrifft. Obwohl dieser nicht länger als 15 Minuten dauert und bei Lokalanästhesie komplett schmerzfrei verläuft. Es gibt so gut wie keine Komplikationen.

Der Vorteil danach: Die Frau muss keine Hormone mehr nehmen. Es sterben jedes Jahr zahlreiche Frauen, weil Sie die Pille einnehmen, aber bis heute ist noch nie ist ein Mann gestorben, weil er sich vasektomieren ließ. Und dies muss man sich mal vor Augen führen, was es für Frauen bedeutet, nicht mehr alleine für die Verhütung zuständig zu sein. Selbst das setzen der Spirale ist deutlich unangenehmer als die Vasektomie. Gerade bei jungen Frauen, die noch kein Kind geboren haben. Und man muss den Vorgang alle 5 Jahre wiederholen.

Die Vasektomie wird hingegen einmal gemacht und man kann die Wirksamkeit jederzeit überprüfen.

Weltweit gibt es übrigens noch immer mehr Tubenligaturen - die Unterbindung der Eileiter bei der Frau -, als Vasektomien. Dabei handelt es sich um einen laparoskopischen Eingriff (eine OP) unter Narkose, also einen bei weitem schwererer Eingriff als bei der Vasektomie.

Welche anderen wichtigen Erkenntnisse gibt es aus der Sexualmedizin?

Wir wissen zum Beispiel, dass Kondome bei einem Drittel aller Männer zu einer Erektionsstörung führen können. Allerdings benötigen wir das Kondom zur Verhütung sexuell übertragbarer Krankheiten. Daher ist das natürlich ein heikles Thema.

Es wird in vielen Bereichen der Sexualität geforscht. Es gibt zum Beispiel ein Schmerzmedikament, das sehr gut bei einem vorzeitigen Samenerguss wirkt. Allerdings wird es für diese Indikation nicht freigegeben, weil die Firmen kein Interesse daran haben, ein Mittel das am Markt etabliert ist, auch für die Indikation ‚vorzeitiger Samenerguss‘ zuzulassen. Aus kleineren Studien wissen wir jedenfalls, dass es hervorragend wirkt. Man kann dies daher nur in einer Arzt-Patienten-Beziehung ansprechen.

Bei der Behandlung einer Penisverkrümmung (IPP = Induratio Penis Plastica) gibt es ein ähnliches Beispiel. Bei einer IPP kommt es zu einer Verhärtung der Haut, die den Schwellkörper umgibt. Infolge kommt es zu einer Verkrümmung des Schwellkörpers, was Erektionsstörungen bis hin zu schmerzhaften Geschlechtsverkehr führen kann. Hier gibt es ein Mittel, dass für die Erektionsstörung zugelassen ist, dass zu einer deutlichen Reduktion der Krümmung führt und zu einem Nachlassen der Beschwerden. Aber hier hat die produzierende Firma kein Interesse an einer Zulassung, weil das Patent in einem halben Jahr ausläuft. Aus diesem Grund wird das Medikament, welches das einzige ist, dass wirklich gut wirkt, nicht für diese Indikation zugelassen.

Das sind Entwicklungen, die sehr traurig sind. Und auch dafür braucht es Sexualmediziner, die den wissenschaftlichen Background, die entsprechende Ausbildung haben und mutig genug sind, diese Mittel einzusetzen. Wir als Sexualmediziner verfügen zudem über die entsprechenden Netzwerke, um uns abzusprechen.  Als Arzt hat man in solchen Fällen aber auch die volle Verantwortung gegenüber den Patienten, da auf den Beipackzetteln von diesen Indikationen nichts zu lesen ist. Deshalb muss die Aufklärung hier äußerst sorgfältig im Rahmen persönlicher Patienten-Gespräche erfolgen.

Was sind die häufigsten Ursachen für eine erektile Dysfunktion?

Dr. Randall Huber: Die häufigste Ursache ist sicherlich Diabetes, die Nerven- bzw. Gefäßschäden auslösen kann. Hauptursache sind Mikroverkalkungen in den zuführenden Gefäßen oder im Schwellkörper des Penis. Es kommt nicht mehr zu einer ausreichenden Relaxation der Blutgefäße im Schwellkörper und dadurch zu einem verminderten Einstrom von Blut. Wir wissen heute auch, dass bei einer Erektionsstörung die Wahrscheinlichkeit für einen Herzinfarkt in 5 bis 7 Jahren deutlich erhöht ist. Gefäßerkrankungen zeigen sich also häufig zuerst als Erektionsstörung.

Eine andere Form, die seltener ist, ist das sogenannte „Venous Leak“. Bei einem venösen Leck kann der Blutabfluss aus den Schwellkörpern zu schnell sein (die Venen gehen nicht mehr zu) und es kommt zu einer Erektionsstörung.. Leider wird hier manchmal auch operiert. Leitlinien und diverse Studien zeigen allerdings, dass so eine Operation nicht sinnvoll ist. Ich halte das deshalb fest, weil oft Patienten zu mir kommen, die nach so einer OP darunter leiden, dass die Wirkung nur 3 bis 4 Monate anhält, denn danach wachsen die Venen wieder nach. Daher ist es hier besonders wichtig, einen seriösen Sexualmediziner aufzusuchen. Und seriös heißt hier: keine sofortige OP vorzuschlagen.

Inwieweit können psychische Faktoren eine Rolle spielen?

Wie schon zu Beginn erwähnt, gibt es die sympathikotone Erektionsstörung. Das heißt eine Erektionsstörung durch Versagensängste, Schamgefühl und/oder Performancedruck ausgelöst. Das bedeutet, alle Zustände, bei welchen der Sympathikus (vegetatives Nervensystem) aktiviert wird, können zu einer Erektionsstörung führen.

Dann gibt es natürlich Sonderformen, wie beispielsweise eine neurogene Dysfunktion nach einer Prostataoperation oder bei Rückenmarksverletzungen, bei der Nervenfasern verletzt wurden.

Welche Therapien sind heute besonders relevant?

Medikamentöse Therapien sind eine wichtige Stufe, um dem Patienten mit Erektionsstörung in der Sexualität wieder Selbstsicherheit zu geben. Machen wir zum Beispiel eine Therapie mit PDE-5-Hemmern für 3 Monate, damit der Patient wieder weiß, es geht ihm gut, es kann funktionieren – empfehlen wir danach die PDE-5-Hemmer ins Nachkästchen zu legen und nur mehr bei Bedarf darauf zurückzugreifen. Meistens benötigen die Patienten die Medikamente danach gar nicht mehr.

Bei jungen Männern verwende ich zum Beispiel auch hochdosiertes L-Arginin, eine wichtiger NO Donator(= Stickstoffmonoxid, einem Botenstoff mit physiologischen Wirkungen auf das Herz-Kreislauf-System und Vermittler einer Erektion). Das führt zu einer besseren Schwellkörperdurchblutung, auch wenn der Penis nicht erigiert ist, fühlt sich der Penis voller an und man ist hier selbstbewusster.

Wichtig zu wissen ist, diese Medikamente führen bei Lustlosigkeit zu keinem Erfolg. In diesem Fall muss man zuvor die Lustlosigkeit behandeln. 

Welche Möglichkeiten gibt es neben Medikamenten?

Wenn ein Gefäßschaden da ist, helfen nur mehr Medikamente. Die nächste Stufe wären dann Spritzen, mit welchen sich der Patient einen gefäßerweiternden Botenstoff direkt in den Schwellkörper injiziert. Dies ist auch nicht schmerzhaft. Die dritte Möglichkeit ist eine Penis-Vakuumpumpe, sie funktioniert hervorragend. Man erzeugt ein Vakuum um den Penis herum, dadurch kommt es zum Bluteinstrom und danach schiebt man einen Gummiring über den Penis, der den Abstrom des Blutes wieder verhindert. Bei einer venösen Abflussstörung ist das die Therapie der Wahl. Einziger Nachteil dabei ist, dass der Penis nicht über die gesamte Strecke rigid ist. Die letzte Stufe der Therapie kann eine Penis-Prothese sein. Man entfernt dabei den Gefäßinhalt des Schwellkörpers, setzt einen Schwellkörperprothese ein, eine Pumpe kommt in den Hodensack und ein kleiner Ballon mit Flüssigkeit in den Bauchraum. Über die Pumpe pumpt man die Flüssigkeit in den künstlichen Schwellkörper und dann hat man eine Erektion. Das funktioniert hervorragend und bei Patienten mit einer zerstörten Schwellkörperfunktion die einzige Möglichkeit wieder eine Erektion zu erhalten.

Weitere Interviews: „Vasektomie – Sterilisation beim Mann“

Weiterführende Infos unter: www.urologenzentrum.at

 

 

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